Beckeraachen

Kunstwechsel


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pop art

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.

Kunst ABC   AVZ   1975

P O P   A R T

Pop art ist nicht popular art = volkstümliche Kunst oder gar Volkskunst. POP ist wie PLATSCH, als Zeitwort meint es Aufplatzen, Hervorschießen. Pop heißt Schick, Fantastisch, Fabelhaft, Pop ist teenage-, Werbeagentur-Jargon, Comic-Strip-Bubble. Pop ist kein Wort feiner Literatur, und Pop Art ist keine „hohe“ Kunst. Hohe Kunst wird in Akademien und Universitäten gelehrt. Pop-Art-Künstler missachten Akademien. Sie studieren nicht Meisterwerke ihrer Väter in den Museen, sondern die „Rosa Presse“, Massenillustrierte, Comics, stellen am TV den Ton ab und hören im Radio die Hitparaden. Sie wollen „dem Volk aufs Maul schauen“, machen einen großen Bogen um Kunstkenner und -liebhaber. Es zieht sie in die Madison Avenues aller Großstädte, in denen die „hidden persuaders“, die Werbeagenturen nisten. Sie versuchen, sie zu unterlaufen, zu durchleuchten, ihre Geheimnisse sichtbar machen. Werbemanager und Industrielle waren die ersten, die ihre Werke gekauft haben.

Ihr Thema ist weder Kunst noch Mensch noch Gesellschaft, sondern Kunst, Mensch und Gesellschaft in den Massenmedien: die Banalisierung von Kunst als demokratisches Bildungsgut ( Botschaft eines depravierten Kapitalismus: es bedarf keiner Bildung, um Kunst schön zu finden), die Banalisierung des Menschen in einem funktionalen staatlichen Organismus (er ist schön und jung, so lange er funktioniert) und die Banalisierung der Gesellschaft ( Jeder kann reich werden).

Die Künstler der Pop Art arbeiten nicht in Akademien, sondern in Werbeagenturen, entwerfen Damenschuhe (Andy Warhol), malen Werbebotschaften auf Häuserwände (James Rosenquist), arbeiten als Schriftsetzer und Lay-Outer (Wolf Vostell). Man spricht von ihnen; das bürgerliche Kultur- und Bildungsbürgertum, das sich in den Exerzitien der „hohen“ abstrakten Kunst nicht mehr wiederfindet, hat sie entdeckt: das schlafaustreibende ANTI, GEGEN, das Salz in der Suppe, POP: die braunen Einkaufstüten mit ihren Markierungen (Brathuhn von Lichtenstein, Tomatensuppendose von Warhol – 45 DM im Kölner Kunstmarkt 1968) und andere Objekte in unbegrenzter Auflage – MULTIPLES, Offset-Drucke statt Lithografien, zuweilen signiert, meistens gestempelt, Nachdrucke wurden populär: Warhols „Konsumententapete“ in jedes moderne Wohnzimmer. Der traditionelle Kunstmarkt wankte unter dem gewaltigen Warenangebot, fing es auf und übernahm Vertriebsstrategien der Warenwirtschaft.

Es war gewaltig. Es ist vorbei. Die New Yorker Pop Art hat sich in einer Übergangsphase der fünfziger Jahre entwickelt, die Robert Rauschenberg und Jasper Johns bestimmt haben. Sie führten in gegenstandslose Bilder nicht nur Zeitungstexte und -fotos als Collagen ein, sondern montierten auf Leinwänden und Rahmen Abfallprodukte, Zivilisationsmüll und schufen in abstrakten Kompositionen neue Sinnzusammenhänge. James Rosenquist folgte noch abstrakten Kompositionsformen, folgte dann aber ebenso den Gesetzen der Medien. Erst Lichtenstein und Warhol setzten Zeitungsfotos und Comics direkt ins Bild. Die Komposition der Vorlagen vereinfachten, paraphrasierten und vergrößerten sie und gaben ihnen so eine neue, sinnbildliche Bedeutung. Marilyn Monroe wurde durch Warhol die neue Mona Lisa.

Pop Art befruchtete nicht nur die internationale Kunst selbst, sondern auch ihre Verbreitung und öffentliche Wirkung. Zahlreiche Museen öffneten sich einem größeren Publikum, Ausstellungen zeitgenössischer Kunst häuften sich. Die Werbeindustrie bediente sich mit Vergnügen ihrer Bildfindungen. Der KUNST wird es nicht mehr gelingen, sich in Schatzhäuserzurückzuziehen, die sie behütet haben.

Abb. James Rosenquist Joan Crawford says…1964 Köln Museum Ludwig


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Roy Lichteinstein

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.

Kunst ABC   AVZ   16.2.1974

R O Y   L I C H T E N S T E I N

Der Amerikaner, geboren 1923, ist der 1. Künstler, der den Comic-Strip aus der Trivialliteratur in das Medium der bildenden Kunst gehoben hat. Kurt Schwitters hat schon 1947 aus Comic-Strip-Fragmenten eine kleine Collage gebastelt, und kurz vor Lichtenstein malte auch Andy Warhol sein 1. Comic-Bild. Bei zögerten, Comic-Strip-Variationen in Werkserien herzustellen; es war ein Wagnis, in einer disziplinierten Kunstszene, die den abstrakten Schulen folgte, ein so banales Bildmaterial zu verarbeiten. Aber gerade das war ein Anliegen jener Generation, die heute als die der POP ART, HAPPENING und FLUXUS bekannt ist: eine künstlerische Alltags- und Allerweltsprache zu finden, mit der möglichst viele sich ausdrücken und verständigen könnten, Inhalte anzusprechen, die vielen bekannt sind und die Aura der Kunst, die unbestritten weiter bestand, einzusetzen, um die Gefährdungen durch die Massenmedien, die „Hidden persuaders“, die sich seit den 60er Jahren beherrschend ausbreiteten, zu zeigen und zu kritisieren.

Blickt man die großen Comic-Strip-Bilder, die Lichtenstein von 1960 bis 64 malte, durch, so sieht man, dass er aus der Fülle der Bildergeschichten, die ihm als Anregung dienten, vor allem Motive aus 2 Erlebnisbereichen gewählt und verarbeitet hat: Liebe und Krieg, anziehende und abstoßende Inhalte einer bürgerlichen Gesellschaft, die Zwänge, in denen sie lebt. In der raschen Folge der Miniaturen einer Bildergeschichte werden solche Aussagen weniger deutlich als in seinen Monumentalisierungen.

Nicht selten benutzt Lichtenstein Requisiten aus alter, bekannter Kunst. Das Mädchen dieses Bildes sitzt nicht nur darum auf der Balustrade einer Gartenterrasse, weil sie als reiches Mädchen erscheinen soll, sondern weil das Bild englisch-amerikanische Porträts des 18. Jahrhunderts variiert und dadurch die junge Dame satirisch adelt. Andere seiner Comic-Strip-Verarbeitungen zeigen Stilmittel des Jugendstils um 1900 und des Art Déco der 20er Jahre.

Lichtenstein hat kunsthistorische Zitate geliebt, hat Paraphrasen zu Picasso ebenso geschaffen wie zu Monet und Léger. Die Comics haben ihn ermutigt. Aber Comic-Strip-Bilder hat er seit 1964 kaum noch gemalt.

Abb. Roy Lichtenstein I know Brad – Ich weiß Brad 1963 Aachen Neue Galerie – Sammlung Ludwig


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Jahrgänge + Moden in der Kunst – 1974

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.

Kunst ABC   AVZ   5.1.1974

J A H R G Ä N G E   I N   D E R   K U N S T: 1974

Nach dem Kalender des Künstlers Robert Filliou wurde vor 1.000.011 Jahren die Kunst geboren. So zählebig ist sie, langandauernd und vieldeutig. Da wir als Zeitgenossen das Zutrauen zu langsamen Entwicklungen verloren haben und ungeduldig Neues erwarten, fragen wir: welche Kunst wird das neue Jahr sichtbar machen? Der Galerist, der Museumskurator, der Kunsthallendirektor:  was werden wir ausstellen? Verkaufen? Dabei dauert auch ein Künstlerleben etwa 60 Jahre, mit einer Knospe in den 20ern, einer Blüte in den 30ern und 40ern und Früchten in den 50ern, 60ern und 70ern. Man könnte, Linnés Gesetzen folgend, den biologischen Ablauf eines Künstlerlebens konstruieren wie den einer Blume. Aber er arbeitet nicht in einem hortus conclusus, einem umgrenzten Paradies, Er lebt in einer politischen Geschichte, er sucht Anerkennung, er baut ein Netzwerk auf und entdeckt, dass nicht die Werke, die er schafft, sondern ihre Reproduktionen in Zeitungen, Prospekten, Katalogen, Filmen und TV-Sendungen ihn bekannt machen. Wie schnelllebig sind sie?

Hit-Paraden verkürzen die Bekanntheit von musikalischen Erfindungen auf wenige Wochen. Man mag sie geringschätzen, von Subkultur, Trivialkunst sprechen, doch ihr kultureller Einfluss ist unter Umständen stärker und dringt in eine größere Gesellschaft als die „hohe“ Kultur. Die Beschleunigung kulturellen Wandels erfasst freilich auch die Künste. Von documenta zu documenta sind in Europa „Stile“ durchgesetzt worden, die ausnahmslos aus den USA kommen. Offenbar ist der New Yorker Kunstszene die Nähe von Hit-Paraden und Moden geläufig. Jährlich empfängt sie in den Ateliers, Galerien und Museen europäische Kunstliebhaber, Sammler, Museumskuratoren, Ausstellungsorganisatoren, „head hunters“ mit der Frage auf den Lippen: Was ist neu? Wer ist der Künstler von morgen? Und gern präsentiert sie ihre Neuheiten nicht anders als Christian Dior oder Pierre Cardin.

Gründe für diese kurzen  Stilschübe, die da erzeugt werden, sind sicher nicht nur im Kräftespiel der freien Marktwirtschaft zu suchen, in der Spekulationsobjekte gefördert werden. Künstler und ihre Förderer haben lange schon gefordert, Kunst möge aus ihrem von kleinen Eliten gebauten Tempel hinaus in das niedere Leben der Vielen treten und ihre Aufmerksamkeit gewinnen. Sie haben erreicht, dass viele heute nach dem neuesten Kunstwerk ebenso fragen wie nach dem Bestseller auf dem Buchmarkt. Sie gehen ins Museum, um Neuigkeiten zu begegnen. Hängt ein Bild zu lange an derselben Wand, äußern sie den Wunsch, es wenigstens von Zeit zu Zeit umzuhängen.

Die Gier nach Neuigkeiten wirkt sich nicht nur auf die Kunstentwicklung, sondern auf das Künstlerselbstverständnis und das einzelne Kunstwerk aus. Picasso, einer der größten Künstler unserer Zeit, hat ein großes Oeuvre zurückgelassen – voller unglaublicher Brüche von der „blauen Periode“ über den Kubismus zum Neoklassizismus – und in jeder Stilepoche immer wieder eine gültige Aussage erreicht, die die Aufmerksamkeit eines großen Publikums erreichte. So lange hat kaum ein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts mit unterschiedlichsten Stilen im Blickpunkt der großen Öffentlichkeit gestanden. Die breite Kunstgeschichte bestimmen dagegen viele andere, die wenige Jahre mit einer aufsehenerregenden Werkgruppe bekannt wurden und im beschränkten Kreis ihrer Freunde und Liebhaber weiterlebten.

Wollte ein Künstler heute den Erwartungshaltungen einer größtmöglichen Gruppe von Kunstinteressierten dauerhaft gerecht werden, so müsste er sein Vokabular benutzen, um ständig neue Aussagen zur Entwicklung der Kultur, in der er lebt, zu wagen. Er ist nicht die Blume, die Früchte trägt, sondern ein Relais, das Nachrichten empfängt, verarbeitet, verstärkt, aktiviert und weitergibt. Alle Amateure aktueller Kunst bewegen sich in einem Netzwerk von Sendern und Empfängern, das täglich über Neuigkeiten berichtet. Der „Jahrgang 74“ ist die Summe solcher Nachrichten, die fieberhaft zusammengetragen werden. Die Inventur findet am Ende statt. Eine beherrschende Stilströmung zeichnet sich nicht ab. Neue Titel wie zuvor „Hyperrealismus“ und „Konzeptkunst“ tauchen noch nicht auf. Vielleicht ist dieses eine ruhige Periode der Auswertungen. Denn Stimmen werden laut, die den hektischen Kulturablauf kritisieren, Atempausen und Entschleunigungen wünschen. Vielleicht bringt es eine kulturelle „Ölkrise“, die das Tempo im geistesgeschichtlichen Haushalt drosselt.

Abb. Gerhard Richter 48 Porträts 1971/72 Neuerwerbung Neue Galerie-Sammlung Ludwig, heute Köln Museum Ludwig

 

 


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Weiche Kunst

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC   AVZ   1975

W E I C H E    K U N ST W E R K E

Die Kunst vieler Weltkulturen ist bis zur Mitte unseres Jahrhunderts hart. Bildträger bestehen aus Holz, Stein, Ton, Metall, und selbst die Leinwand, auf die seit dem 15. Jahrhundert Bilder gemalt werden, ist hart grundiert und mit Farbschichten so bedeckt, dass das Leinen nicht sichtbar wird. Erst seit den 50er Jahren gibt es weiche Malerei und Skulptur. Vor allem in der amerikanischen Farbfeld-Malerei ist die Leinwand nicht mehr grundiert, sondern saugt die aufgetragene wasserlösliche Acrylfarbe ein wie Lösch- oder Aquarellpapier, sie ist nicht auf einen Keilrahmen gespannt, sondern locker an die Wand geheftet oder in großen Bahnen auf dem Boden des Ateliers ausgelegt.

Hart waren Bilder und Skulpturen, weil ihre Auftraggeber wünschten, sie würden lange halten. Mächtige Personen forderten härteste Materialien für ihre Bildnisse. Stürzten sie, wurden sie der „damnatio memoriae“, dem Fluch der Erinnerung unterworfen, ihre Bildnisse zerstört. Erhalten blieb, was hart genug war, um dem Verfall und der Zerstörung zu widerstehen. Die weichen Kunstwerke unserer Zeit geben diesen Anspruch auf. Sie sind fast so vergänglich wie die großartigen Wasserspiele und Feuerwerke der Vergangenheit.

Wo keine unumstrittenen Götter und Herrscher regieren, bleibt die Möglichkeit, den Anspruch auf „Ewigkeit“ den Kunstwerken selbst mitzugeben. Henry Moore hat große Skulpturen in Bronze gießen lassen, die nicht nur der fernen Zukunft erhalten bleiben können, sondern als Sinnbilder aus der Epoche ihrer Entstehung so weit in die Vergangenheit reichen, dass wir dazu neigen, sie zeitlos zu nennen. Bronze weist wie Marmor, Gold, Silber und Rosengranit in die Zeit der Götter und Herrscher zurück. Wer zum 1. Mal einer „weichen“ Skulptur begegnet, vermisst diese Aura, die die Kulturgeschichte geschaffen hat. Ihre Erfindung gehört nicht umsonst den Amerikanern, In der Demokratie, die sie zuerst entwickelt haben, halten Ewigkeitswerte den plebiszitären Erneuerungen nicht kritiklos stand.

Doch die Erfindung der weichen Skulptur ist nicht Folge einer kunsthistorischen Entwicklung, sondern Reflex von zivilisatorischen Neuerungen: dem Reichtum der Kunststoffe und ihrer Nutzung in einer überbordenden Verpackungs- und Wegwerfkultur. Sie ist ein Produkt der POP Art, und Claes Oldenburg ist mit ihr bekannt und berühmt geworden. Er erkannte, dass diese Kunststoffe alle ästhetischen Vorstellungen von Materialgerechtigkeit verändern, und dass in dieser Phase der Unsicherheit gegenüber den neuen Materialien das freieste Spiel der Fantasie möglich ist. In solchen Phasen, die für Erfinder fruchtbar sind, erscheinen ihre Entwürfe häufig wie Selbstverständlichkeiten, Capricen, Witze. Oldenburg ist  ein Humorist, der augenzwinkernd jene kränkt, die Ewigkeitswerte der Kunst verteidigen, aber auch die tüchtigen Bauhaus-Funktionalisten und -Designer, die unsere Steckdosen, Waschbecken, Schreibmaschinen und Entsafter entwerfen und sie für schön halten, weil sie funktional sind. Er hat ihren Glauben an Materialgerechtigkeit erschüttert, indem er alles, was uns hart, glatt, hygienisch, funktional, perfekt begegnet, weichgemacht, gedemütigt, und vergrößert hat – in einer vergänglichkeitsbewußten Parodie unserer Ewigkeitswünsche.

Der Witz hatte ernste Ursachen und Folgen. Er relativierte die Absolutheitsansprüche der Konsumgesellschaft; er leitete eine neue Kategorie von Bildvokabeln ein: Nancy Graves konnte ihre Skulpturen von Kamelen ebenso schaffen wie Dieter Rot seine Schokoladenbüsten Beethovens usw. Der Witz erschütterte die Werthierarchien der Materialien: Skulpturen aus Gold werden belächelt, Bronze und Marmor haben die alte Glorie verloren. Und Oldenburg hat die Aura des öffentlichen Denkmals im Stadtbild korrigiert: eingeladen nach Aachen, würde er eher der Printe als Karl dem Großen ein Denkmal widmen – aus einem vergänglichen, vielleicht sogar essbaren Material. Am Ende hat er die Aufmerksamkeit auf alle jene außereuropäischen Kulturen gelenkt, deren Kunstwerke aus vergänglichen Materialien wie Stoffen, Schnüren, Häuten und Federn bestehen. Die Zukunft der „weichen Kunst“ hat mit ihm begonnen.

Natürlich gab es auch in Europa Bilder an den Wänden, die nicht auf harten Holzplatten gemalt waren, gewebte Wandbehänge, Gobelins, Tapisserien, aber erst in unserer Zeit genießen sie die gleiche Aufmerksamkeit der Kunsthistoriker, Museologen und des Publikums und können wie Bilder betrachtet werden.

Gemälde auf gespannten Leinwänden haben erst im 18. Jh. ihren Bildgrund verraten, als in einer a-la-prima-Malerei sichtbar wurde, dass Farben spontan, ungemischt aufgetragen werden können, dass Textur der Leinwand und Duktus Teil des Bildausdrucks sind. Die Bilder verloren ihre Kraft der Illusion, sie waren keine „Fenster“ mehr, sondern Malflächen, nicht mehr Bilder der Welt, sondern eigene Welten.

Die amerikanischen hard-edge-Maler waren die ersten, die den „Käfig“ des Bildrahmens in Frage stellten. Sie verwandelten die 2-dimensionale Fläche in einen 3-dimensionalen Bildkörper. Gleichzeitig degradierten Yves Klein in Paris und Jackson Pollock in New York die Leinwand zur Folie bildnerischer Gesten: Klein drückte eingefärbte menschliche Körper auf ihr ab, Pollock betropfte sie mit Farbe aus dem Pinsel oder einem durchlöcherten Eimer.

Die amerikanischen Farbfeldmaler – Kenneth Noland, Morris Louis – und ihre französischen Nachfolger der Gruppe Supports Surfaces – Claude Viallat, Simon Hantai u.a. – nutzten Tücher verschiedener Art und Größe, die sie mit Acrylfarben bedeckten, an der Wand, auf dem Boden, bemalten, begossen, hochzogen, die Farbe fließen ließen. Ihre überdimensionalen farbigen Tücher füllen seit den 50er Jahren große Ausstellungswände. Diese Künstler genossen die neue Freiheit, aus Fallschirmseide, Tarnfarbenstoffen, polyesterdrucktränkten Fliegendrähten, geknüpften Schnüren und Strohhalmen Objekte herzustellen, die nicht nur Galerien und Museen bereichern, sondern die offenen Räume der Städte erobern. Die Restauratoren bemühen sich, sie zu erhalten.

Abb. Claes Oldenburg Giant soft swedish light switch/Ghost Version 1966 Sammlung Ludwig

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Lärm in der Kunst

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC   AVZ   1974

L Ä R M   I N   D E R   K U N S T – B R U I T I S M E

Der Hörer muss nicht nur Tanzmusik ungewohnt laut ertragen, aber auch in konventionelle Konzertsälen wird er schmerzende Dissonanzen, Quietsch- und Heultöne   aufnehmen müssen. Flieht er in einen Ort, in dem er Stille erwartet, ein Museum, so wird er enttäuscht. Nicht alle Kunstwerke schweigen. Zahlreiche zeitgenössische Objekte artikulieren Geräusche, angestoßen oder von selbst. Dem Alltagslärm fügen Künstler seit einem Jahrhundert eigene Geräusche hinzu.

1913 veröffentlichte der italienische Futurist Luigi Russolo das Manifest „Die Kunst der Geräusche“ und gründete die Bewegung des bruitsme (französisch: bruit = Geräusch, Lärm). Der Rahmen der Musik müsste weiter gefasst werden und Platz machen für die Töne des Industriezeitalters, das Rattern der Maschinen, das Heulen der Sirenen, den Verkehrslärm der Straße. Nicht genügten ihm die Abschaffung der tonalen Oktav-Musik, die 12-Ton-Musik der Wiener Schule, die Konzertsäle. Er suchte neue Orte und neue Hörer. 1914 entwarf er die Geräuschorgel „Intonarumori“ („Geräusche vertonen“) und demonstrierte sie in verschiedenen Städten. Die revolutionäre DADA-Gruppe des Cabaret Voltaire in Zürich nahm seine Vorschläge mit Begeisterung auf. Hugo Ball dirigierte ein Bruitisme-Konzert, das hinter einem weißen Vorhang gespielt wurde und dem Publikum eine chaotisch wirkende Folge aggressiver Geräusche bot, die auf banalen Gegenständen erzeugt wurden. Russische Künstler übertrugen die Aufbruchsstimmung der Oktoberrevolution in die Aufführungskünste, inszenierten ein Konzert in Odessa, an dem sie Chöre, Sirenen der Fabriken, der Schiffe im Hafen und Kanonen beteiligten. Das neue Publikum bewegte sich auf Straßen und Plätzen, seine Schritte und Dialoge, seine Proteste und Applause gingen in das „Gesamtkunstwerk“ ein.

Die Befreiung von akademischen Regeln führte Komponisten der Jahrhundertwende (Bela Bartok, Igor Strawinsky) nicht nur zur Volksmusik ihrer Heimat, sondern erlaubte ihnen auch, „konkrete“ Geräusche des Alltags in ihre „abstrakten“ Kompositionen zu integrieren. In dem Ballett „Parade“ von Eric Satie 1917 hört man nicht nur Geigen, Trompeten und Schlagzeuge, sondern auch Sirenen, Motoren und Schreibmaschinen.

Die Konzerte sind Aufführungen, die Musiker Schauspieler. John Cage demonstrierte ein Wasserkonzert im amerikanischen Fernsehen – das erste „Happening“. Er arbeitete mit dem Tänzer Merce Cunningham zusammen, einem Schüler von Martha Graham, der „Mutter“ des „Ausdruckstanzes“. Cage systematisierte das Geräusch wie die Stille. Die Komposition „4“ 33´´“, 3 Sätze eines Klavierkonzertes, das der Pianist vorführte, indem er den Deckel des Pianos hob und nach 4 Minuten und 33 Sekunden senkte, ohne die Tasten zu berühren, ist berühmt geworden. 1957 tanzte Paul Taylor nach dem verstärkten Besetzt-Zeichen eines Telefons, und Karl Heinz Stockhausen konnte im elektronischen Studio des WDR in Köln mit Freunden wie Nam June Paik den Synthesizer entwickeln, neuartige Kompositionen vorführen und aufnehmen. Diese musikalischen „Collagen“ nivellieren die Töne und Geräusche elektronisch auf eine Laustärke; den Ton eines schlagenden Herzens, das Atmen eines Menschen und den Krach eines Presslufthammers nimmt die Matrix des Tonbandes gleichwertig auf. Die hierarchische Ordnung von Musik zu Lärm, von schon zu hässlich, die im Lauf einer langen Kulturgeschichte entstanden ist, bricht zusammen; dem „schönen“ Klang eines Akkordes, der auf einem Cello gestrichen wird, steht das „schöne“ Motorengeräusch eines hochgetuneten Automotors nicht nach, der Stimme eines klassischen Soprans nicht das heisere Flüstern eines Rezitators, dem überwältigenden Klang eines Sinfonie-Orchesters nicht der Ruf einer Kuckucksuhr.

Abb. Luigi Russolo Intonarumori 1913


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Fotorealismus

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC AVZ 1974

F O T O R E A L I S M U S

Um die mit den Augen wahrnehmbare, räumliche, 3-dimensionale Wirklichkeit auf eine Bildtafel zu übertragen, erfindet der Künstler ein 2-dimensionales Scheinbild, das die menschlichen Augen in der Natur nie sehen. Er bedient sich dazu der geometrischen und der Luftperspektive. Die Erarbeitung dieser Methode setzt eine wissenschaftliche Fragestellung voraus. Nach der „symbolischen“ Kunst des Mittelalters, in der jeder Naturgegenstand „von Gott“, als Zeichen von Gottes Schöpfung galt, erarbeiten die Menschen der Renaissance im 15. Jahrhundert die Wissenschaft von der Natur. Die Italiener erfinden die Perspektive der Formen, die Niederländer die der Luft. Sie und ihre Nachfolger bedienen sich mechanischer Hilfsmittel wie des Projektionsschirmes und der Camera Obscura. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eignen sich die Künstler die Foto- und Filmkamera und den Diaprojektor an. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern versuchen sie aber, die mechanischen Hilfsmittel zu verleugnen, da die Fotografen selbst Bilder erzeugen, die mit denen der Maler wettstreiten. Erst der direkte Einsatz von Originalfotografien, Buch- und Zeitungsdrucken nach Fotografien, geklebt in gemalte Bilder, von den 20er Jahren bis zur Pop Art und die ausschließliche Verwendung von Fotografien zur Erstellung von Kunstobjekten – im Künstlerfilm seit den 20er Jahren, heute vor allem in allen Varianten der „Konzept-Kunst“ – machte das Foto kunstwürdig. So gibt es seit den 60er Jahren in New York, Kalifornien und Mitteleuropa Maler, die Fotografien so direkt in gemalte Bilder übersetzen, dass auch der unvoreingenommene Betrachter sofort die Fotovorlage wahrnimmt.

Die Bilder dieser Fotorealisten hat der Sammler Peter Ludwig zum ersten Mal für die Neue Galerie in Aachen gesammelt. Sie erregten in der documenta 5 in Kassel 1972 weltweit Aufsehen. Sie sprechen breite Bevölkerungskreise an, weil sie die Erwartung, Kunst komme von Können, bestätigen: die meisten sind virtuos gemalt, sie geben allbekannte Gegenstände unserer Erfahrungswelt in großer, schöner, geordneter Form wieder, sie verlangen nicht die „gehasste“ Ehrfurcht vor Kunst als Spielform einer intellektuellen Elite, sie lassen zu, dass der Betrachter sie vergisst und die Illusion, die er wahrnimmt, für die Wirklichkeit hält. Jean Olivier Hucleux hat, um die Illusion zu steigern, die Serie der Friedhofsbilder in einem dunklen Raum als „Fenster“ hell beleuchtet ausgestellt.

Da wir täglich von Fotografien und ihren Reproduktionen in Zeitungen, Illustrierten, Plakaten, im Kino und TV umgeben sind, halten wir sie für authentische, glaubwürdige Spiegelbilder der Wirklichkeit. Das leistet kein Kunstwerk, kein gemaltes Bild kann diese Glaubwürdigkeit fordern. Kann ein Künstler diese Überzeugung erschüttern? Kann ein Künstler eine Wirklichkeit malen, die wirklicher als wirklich ist? Vergleichen wir die Bilder der Fotorealisten mit ihren fotografischen Vorlagen, so sehen wir die Unterschiede: das Foto setzt sich aus Körnern oder Pixeln zusammen, das gemalte Bild aus Farbstoffen, die die menschliche Hand aufgetragen hat. Eine Vergrößerung der Fotovorlage auf die Größe des gemalten Bildes lässt unter Umständen Details unscharf erscheinen, die der Maler exakt wiedergegeben hat. Projiziert man Fotovorlage und Bild gleich groß nebeneinander, so ist die Projektion des Bildes schärfer, in den Farben leuchtender und wird in der Perspektive und Tiefenschärfe Unregelmäßigkeiten zeigen, weil der Maler die Flächigkeit der Vorlage, die aus einer 1-äugigen Kamera stammt, stereometrisch zu ergänzen versucht, und der Farbigkeit der Fotovorlage, die Ergebnis chemischer Prozesse ist, die der Öl- oder Acrylfarben entgegensetzt. Unsere Sehnerven, die der tägliche Umgang mit Bildern stumpf werden lässt, erhalten hier ein aufregendes Training. Gemalte Bilder können kein einfacher Abklatsch der Wirklichkeit sein.

Die Alltäglichkeit der Motive im Kunstkontext provoziert. Sie erscheinen auf Tafelbildern und werden in Galerien und Museen ausgestellt. Sie weisen über sich hinaus, widerspiegeln ein Zeit- und Lebensgefühl. Hucleux malt französische Friedhöfe in der Nähe seines Hauses an der Seine. Er hat dafür persönliche Gründe, aber wir fragen: Haben wir diese pompöse Friedhofsromantik nicht überwunden? Oder ist sie zeitlos wie die Angst vor dem Sterben, die Pflege der Erinnerung und die Furcht vor dem Vergessen?

Abb. Jean Olivier Hucleux Friedhof 6 1974 Öl/ Holz Paris Centre Pompidou

 

 


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Freud + die Kunst

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC   AVZ 14.8.1974

S I G M U N D   F R E U D   +   D I E   K U N S T 3 (1-3)

André Breton hatte bei Freud den „Inneren Monolog“ kennen gelernt, eine Methode, nach der der Patient auf der Couch möglichst pausenlos alles äußerte, was ihm einfiel. Er übertrug diese Methode in die Literatur und Bildkunst. Es gibt lebensvolle Berichte, die die Versuche der Pariser Surrealisten schildern, zu „Träumenden Automaten“ (Breton) zu werden. Der Automatismus als wort- und bildkünstlerische Methode ist eines der wichtigsten Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. Der Objektsurrealismus eines Magritte oder Dali beruht nicht auf Bildsymbolen, die einem kollektiven oder individuellen Unterbewusstsein in einem kraftvollen Akt der Aneignung entrissen werden, sie sind allesamt Ergebnisse langer kulturgeschichtlicher Entwicklungen. Ihre spezifische Auswahl ist datierbar und wiederspiegelt das Geschlechterselbstbewusstsein in der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Der „automatistische“ Surrealismus dagegen bleibt gewissermaßen Freud näher und hat sich in enger Nachbarschaft zur Psychopathologie, zur Bildnerei der Geisteskranken weiterentwickelt. Basis dieser Methode ist das ungehemmte Kritzeln bei geöffneten oder geschlossenen Augen; im dauernden Fortschreiben müssten sich dabei Bilder formen, die das „Unbewusste“, das „Es“, befreit von den Kontrollen des „Ichs“ und „Überichs“ wiedergeben. Fortschreiben, weil die Kritzelei ja keine andere Kompositionsform als die des Zeilenbildes erlaubt. Allen Versuchen der Surrealisten – André Masson, Henri Michaux, Christian Dotremont -, der abstrakten Aktionisten – Jackson Pollock bis Cy Twombly – ist darum die Komposition des Zeilenbildes gemeinsam. Entsprechen diese Versuche im engen Sinn der Form des inneren Monologs, wie Freud ihn entwickelte, so wurden sie dennoch nicht unternommen, um psychoanalytischen Untersuchungen als Belege zu dienen. Die Surrealisten haben die Methode des assoziativen Monologs erweitert und auf neue Gestaltungsformen angewendet. Max Ernst entwickelte die frottage, das Abreiben von Holzmaserungen und anderen Oberflächen, in denen sich ohne den Willen des Autors neuartige Bilder und Symbole erheben.  Masson und Miro warfen Sand auf klebende Leinwände und arbeiteten aus den Zufallsformen neue Figurationen hervor. Hier entstand ein eigenes Feld zwischen der automatistischen Malerei und Zeichnung im engsten Sinn und dem Objektsurrealismus, der einen begrenzten, inhaltlich festgelegten Vorrat von Bildsymbolen einer kombinatorischen Methode unterwirft, ein Feld, das einseitig von der Ordnung des Zufalls als einer a-kausalen Ordnung beherrscht ist. (Damals hatten allerdings die Mathematikwissenschaftler eine Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelt, die solche Zufallsbewertung korrigierte.) In diesem Zwischenfeld konnte sich der Surrealismus am stärksten verdichten. Hier haben Max Ernst, Joan Miro – und Paul Klee ihre wichtigsten Werke geschaffen. Freud haben sie nicht interessiert.

Abb. Max Ernst Frottage 1925 23x31cm


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Sigmund Freud und die Kunst

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC   AVZ 14.8.1976

S I G M U N D   F R E U D   +   D I E   K U N S T   2 (1-3)

Die Banalisierung einer sexuellen Symbolik, an der sich Freud zögernd versucht hat, beginnt mit den Surrealisten der zwanziger Jahre und endet in der kommerziellen Werbung und alle abgeleiteten, epigonalen Künsten heute. Dabei zogen die Surrealisten aus den Erkenntnissen Freuds eine Formel bildnerischer Methode ab, die ihnen gestattete, sexuelle Symbole auszutauschen. Sie kann als kombinatorische Spielform ästhetisch begründet werden, kann aber auch Resultat eines psychopathologischen Befundes: der Austausch findet in einer Persönlichkeitsverschiebung statt, im Wahn, in einer Paranoia. Wir finden die Verschiebung häufig in surrealistischen Bildern: Magritte vertauscht Mund und Scham, Penis und Nase, Dali entwickelt daraus eine paranoid-kritische Methode. Die Fixierung auf die psychopathologische Erklärung verdunkelt aber die Geschichte des Austauschs und der Verschiebung al Teil der Kunst- und Kulturgeschichte selbst.

Wie der italienische Metaphysiker Giorgio di Chirico und der von ihm verehrte Schweizer Arnold Böcklin vor ihm „Traumbilder“ gemalt haben, so hat Stephane Mallarmé, beherrschende Figur unter den Pariser Literaten, den „Symbolisten“ um 1900, den Zufall konkret in seine Dichtungen einbezogen und ist mit dem Satz berühmt geworden: „Un Coup de dé n´abolira jamais le hasard“ – „Ein Würfelwurf wird niemals den Zufall beseitigen“ (1897). Mit ihm beginnt ein Interesse der Künstler am Glückspiel. Marcel Duchamp gibt 1924 500-Francs-Aktien heraus, die den Besitzer an seinen Gewinnen und Verlusten im Kasino von Monte Carlo beteiligen. Duchamp zeigt auch die feinste Verarbeitung der Lehren Freuds. Das berühmteste objet troue, das umgedrehte Pissoir, ist sozusagen ein augenzwinkernder Kommentar zur Sexualsymbolik, Und Harald Szeemanns Ausstellung „Junggesellenmaschinen“ hat die Hintergründe und Folgen des Hauptwerkes, des Großen Glases, hinreichend psychopathologisch erläutert.

Ist das objet trouvé als Kunstgattung ein Produkt des Zufalls? Oder leistete Duchamp mit dem Urinoir nur einen Beitrag zur Verbildlichung der freudianischen Sexualsymbolik? Die Surrealisten um André Breton leiteten aus Lehren Freuds ab, in zufällig herbeigeführten Ereignissen äußere sich das Unbewusste, das „Es“ des Beteiligten. Darum studierten sie spiritistische Techniken und versuchten, durch Nahrungs- und Schlafentzug die Kontrolle des Bewusstseins auszuschalten. Duchamp hat, ohne sich psychopathologischer Begründungen zu bedienen, in der Gattung des „objet trouvé“ den Zufall als Störung eines Wirklichkeitsverhältnisses, als Anlass einer Verfremdung als Methode begriffen. Er hat verstanden, dass wir pausenlos zwischen funktionslos gewordenen, entfremdeten Gegenständen leben – in einem Museum. Nicht die Entfremdung unserer Arbeit ist das Problem, sondern die Entfremdung der Gegenstände, mit denen wir arbeiten. Diese Entfremdung, die Störung unserer Haltung zur Wirklichkeit, kann Bilder hervorbringen, als seien sie geträumt. (wird fortgesetzt)

Abb. Marcel Duchamp DADA-Bild L.H.O.O.C.“ 1919 Paris Centre Georges Pompidou (phonetisch zu lesen „Elle a chaud au cul“ – „Sie hat einen heißen Po“)


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Nam June Paik

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC   AVZ   16.5. 1974

Nam June Paik 2 (1-2)

„Der Beitrag der Kunst zur Technologie war, dass man sich auf Maschinen nicht verlassen kann. Die Sache des Künstlers ist es, den positiven Werteines negativen Wertes aufzuzeigen, die Minus-Seite. In einem TV-Experiment weist sie auf, was mit dem TV nicht stimmt. Kunst weist auf die chaotische Situation in der Welt hin. Wir verlieren nämlich das Chaos aus der Hand….“ Der Fluxus-Künstler Paik wurde in den USA nicht zum Technologiegläubigen TV-Freak, im Gegenteil: „ich bediene mich der Technologie, um sie gründlicher hassen zu können.“ Paik wirft der Elektronik-Industrie ihre high-fidelity-Gläubigkeit vor. „Hohe Treue ist in der Musik seit Stockhausen und Cage tot, in der Ehe seit Dr. Kinsey und im Fernsehen seit uns.“ Sein Video-Synthesizer ist ein Low-Fidelity-Gerät, eine Aufforderung zum do-it-yourself, der jeder folgen kann. Er geht davon aus, die „High Fidelity-Medien „heiß“, d.h. einseitig beherrschend, versklavend wirken, während Low-Fidelity-Medien demokratisch sind, zur Teilnahme anregen. Das Spiel mit dem Synthesizer führt zu Gruppenerlebnissen. Die geringe Bildtreue, die er besitzt, führt zur kritischen Distanzierung von den Inhalten, zu kreativen Handlungen und freiheitlichen Handlungen. Das große Stück „Moon is the oldest TV“ von 1965 zeigt 12 alte Schwarz-Weiß-Geräte in einem dunklen Raum, deren Bildröhren Paik so behandelt hat, dass alle Phasen des Mondes auf ihnen zu sehen sind. Kinder reagieren auf neue Spielzeuge so: sie nehmen sie auseinander, um zu sehen, wie sie funktionieren und bauen sie anders wieder zusammen. Sie werden erwachsen – und autoritätsgläubig. Cage nennt Paik einen „konvertierten Kriminellen“ wie Duchamp. Mit zäher Liebenswürdigkeit hast der Koreaner seine Standpunkte durchgesetzt. Sein Band „Global Groove“ von 1973, in dem er farbige Bilder aus dem heißen, kommerziellen Fernsehen mit denen vermischt, die er mit seinem Synthesizer produziert hat, wurde von mehreren großen Sendern in USA ausgestrahlt. Er war dort erfolgreich, weil er kein bildkünstlerischer Formalist ist: „Mir gefällt schlechte Kunst. Mir gefällt Kitsch. Mir gefällt die Collage, die Zeitcollage, die musikalische Collage.“ So spricht der wichtigste intermediäre Künstler, der sich keiner künstlerischen Disziplin und keiner Orthodoxie unterwirft. Er zeigt uns die Beweglichkeit des Avantgarde-Künstlers im elektronischen Zeitalters ebenso wieder wie die Ruhe des Buddha, hinter dessen geschlossenen Lidern alle Bilder, die diese hysterische Zeit produziert, in eine globale Phantasmagorie münden. Buddha ist Teil seiner Bildsprache. Paik drückt den Finger auf unsere Wunde: „Die Malaise unserer Zeit ist die schwierige Balance von Input und Output. Laut Statistik müssen wir jährlich 40.000 Werbefilme über uns ergehen lassen, aber wir können uns nicht leisten, die in 40 .000 Spots angepriesenen Waren zu kaufen. Folglich legen wir uns eine künstliche Output-Einheit zu, d.h. wir legen uns auf das Psychiater-Sofa und REDEN —– wie ein Goldfisch“

Abb. Nam June Paik in der Neuen Galerie Sammlung Ludwig 1973 Foto Lohmann


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Nam June Paik

K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC   AVZ   1974

N A M   J U N E   P A I K  +   F L U X U S 1 (1-2)

1958 treffen sich bei den „Internationalen Ferienkursen für neue Musik“ in Darmstadt der Amerikaner John Cage und der Koreaner Nam June Paik. Paik ist 26 Jahre alt und hat n den Universitäten Tokio, München und Freiburg Musik, Ästhetik und Kunstgeschichte studiert. Die Begegnung mit Cage ist ein Schlüsselerlebnis. Paik wird zum Pionier des fluxus in Europa und Bahnbrecher der Videografie in den USA. Cage hatte die Revolution gegen die bürgerliche Musikästhetik eingeleitet, indem er ihre Praxis desavouierte; ein korrekt gekleideter Pianist spielt vor einem Publikum in einem Konzertsaal 3 Sätze einer Komposition, Die 4 Minuten und 33 Sekunden dauert, ohne eine Taste zu berühren. („4‘ 33“ 1952 gespielt von David Tudor – das 1. Happening). Cage verfremdete den Klang von Klavieren, nahm Geräusche zwischen Lärm und Stille in seine Kompositionen auf und beteiligte Tänzer und Bildende Künstler an seinen Aufführungen. Hier konnte Paik anknüpfen.

Im gleichen Jahr, 1958, zieht er nach Köln, um im Studio für elektronische Musik des WDR zu arbeiten, das Karl Heinz Stockhausen leitet. Das 1. Stück, das er hier entwickelt, heißt „Hommage à John Cage“ Er benutzt dazu 2 Klavier, 1 ohne Tasten, Tonbandgeräte, Steine in Blechbüchsen, ein Spielzeugauto, eine Kunststofflokomotive, ein rohes Ei, eine Glasscheibe, eine Flasche mit Kerzenstummel und eine Spieldose. Ein Augenzeuge:“ Aus den Tonbändern erklang der Schrei von 20 bedrängten Jungfrauen, danach der Nachrichtendienst des WDR. Der Komponist warf das Ei an die Wand und spielte 30 sec. Nach Metronom und Spieldose „normal“ auf dem Tastenklavier. Im 2. Satz sprang Paik koreanisch brüllend im Zimmer umher, pfiff auf der Kunststoff-Lokomotive, löschte das Licht und entzündete die Kerze. Der 3. Satz begann verhalten im Kerzenschimmer. 2 Knallfrösche jagten angenehmes Schaudern durch die Knochen der Konzertbesucher. Aber im 4. Satz, dem Finale Furioso, raste Paik wie ein Berserker durch die Gegend, zersägte mit einem Küchenmesser die Klaviersaiten und kippte am Ende den Klimperkasten um. Pianoforte est morte.“ Seine Fluxus-Aktionen sind, anders als die Musikaufführungen von Cage, in äußerster Aggressivität gegen die „Möbel“ der traditionellen europäischen Musikkultur gerichtet. Kaum ein Künstler hat so viele Klaviere und Violinen zerstört – mit der Grazie eines Karate-Kämpfers: „One for Violin Solo“ 1962 in den Düsseldorfer Kammerspielen: auf matt beleuchteter Bühne hebt er sehr, sehr langsam von einem Tisch vor ihm eine Violine empor und zerschlägt sie (alle warten gespannt) blitzschnell an der Tischkante. Zeitgleich stellt der französische Künstler Arman große Assemblagen aus zerschlagenen Geigen und Celli aus. Zerstörerische, revoltierende Bildgesten der Kulturerneuerung finden sich im Pariser „Nouveau Réalisme“ ebenso wie in der New Yorker Pop Art und der Happening- und Fluxus-Bewegung. Paik war in den 60er Jahren ein Kulturanarchist wie 40 Jahre vor ihm der Kölner Max Ernst. Aber er lebte im elektronischen Zeitalter.

Abb: Nam June Paik Sonne Mond und Sterne 1990 Aachen Ludwig Forum Sammlung Ludwig