Beckeraachen

Kunstwechsel


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Musik als Gewalt?

Kalendergeschichten – news – fake news

 

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Deer „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

  1. Kalendergeschichte MUSIK ALS GEWALT?

 

Der Eupener Organist Serge Schoonbrodt spielte auf der Orgel von St. Elisabethin Aachen, als die entweihte Kirche 2016 ein pop up HOTEL TOTAL war, die Passacaglia von Johann Sebastian Bach – zu Ehren einer im Gewölbe kreisenden Skulptur des amerikanischen Bildhauers Daniel Rothbart – eine Musik, auf der Straße zu tanzen (passare, calle), laut, mächtig, überwältigend. Ich begriff, dass die Pfeifenorgel, das Instrument der Heiligen Cäcilie, nach schüchternen Anfängen (eine der ersten in der Kapelle Karls des Großen) im Barock des 17. Jh. in die Musik Europas einen die Sinne überschwemmenden Rausch getragen hat, den auch das größte Orchester nicht erzeugen konnte.

Ein Jahr vor seinem Freitod 1811 schrieb Heinrich von Kleist die Novelle „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“, eine Geschichte vom Aachener Dom, dem Nonnenkloster St. Cäcilien, von der wundersamen Aufführung einer italienischen Messe aus alter Zeit, von Bilderstürmern und drei Brüdern, die Aufruhr planten und, gefesselt von der Musik der Messe, nicht aufhören konnten, das Gloria „mit grässlichen und entsetzlichen Stimmen“ zu wiederholen, „ – so mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen, wenn sie zur eisigen Winterzeit das Firmament anbrüllen“, so dass sie ihr Leben in einem Irrenhaus beschließen mussten. Nicht die MACHT der Musik hat diese jungen Männer überwältigt, sondern ihre GEWALT hat ihnen den Verstand geraubt, als hätte sie ein Fluch getroffen.  Ihre Mutter sah später bei der Äbtissin die Partitur des Gloria in excelsis deo. „Es war ihr, als ob das ganze Schrecken der Tonkunst, das ihre Söhne verderbt hatte, über ihrem Haupte rauschend daherzöge.“

War die Orgel ein Instrument, das die Ton- und Lautstärke der Musik wesentlich silbermann Arlesheimerweiterte, so benutzten die Regisseure der russischen Oktoberrevolution  für öffentliche Konzerte Industriesirenen und Kanonenschüsse,  der Komponist  Marinetti hatte in Mailand für seinen „Weckruf der Hauptstadt“ 1909 Schreibmaschinen, Kesselpauken, Kinderknarren und Topfdeckeln eingesetzt, und bis heute hat das komplexe Feld der Mikrofone und elektrischen Verstärker zu Tonvolumina geführt, die nicht nur die Trommelfelle überwältigen, sondern die Körper der Zuhörer vibrieren lassen. Freilich vereinen sich Menschen nicht nur im Erlebnis von Musik, , formen Gesellschaft und begegnen Lust und Schmerz – GEWALT. Der „Schrecken der Tonkunst“ kann hymnische Bekenntnisse. Freudentaumel, Tänze, Räusche, Ekstasen und dauerhafte Verletzungen hervorrufen.  In der „Novelle“ konnte Schwester Antonia die Messe nicht dirigieren. Sie starb im Krankenbett, während eine andere am Pult stand. Cäcilie selbst hat die Brüder gelehrt, das GLORIA zu brüllen.

Abb. Die Silbermann-Orgel in Arlesheim

 


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Tiere im Museum

Prtfotmance Gerofrey Hendricks Stephen Varble im BallsaalKalendergeschichten – news – fake news

Lebende Tiger unter Fotoporträts von André Breton, André Breton, Filippo Tommaso Marinetti und Wladimir Majakowski

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Deer „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

  1. Kalendergeschichte Lebende Tiere im Museum

 

Ein Aufseher im Aachener Zoo erzählt: Heute rangelte ein 4-jähriger lebhaft mit den Ziegen, als sei er mit ihnen vertraut. Sein alter Vater kannte den Zoo, er hatte 1977 die Affen gebeten, ihren Käfig für den amerikanischen Künstler Alan Sonfist zu räumen, der sich dort einen Tag lang ebenso nackt wie sie damit aufhielt, einen freundlichen Blick auf die Nachbarn zu werfen, die ihm neugierig zuschauten. sich zu rasieren, die Zeitung zu lesen und mit Zuschauern zu plaudern, Der alte Mann erzählte mir von den Tieren, die er in seinen Museen gepflegt hat – in Museen moderner Kunst. Künstler brachten sie mit, oder er musste sie suchen: für den Norweger Geoffrey Hendricks 1972 20 weiße Mäuse. Der saß 3 Stunden lang im Ballsaal des Alten Kurhauses in der Neuen Galerie auf einem 150 cm hohen schwarzen Erdhügel und lass in einem Buch des fluxus-Vaters Dick Higgins (nehmen wir an in: foew & ombwhnw: a grammar of the mind and a phenomenology of love and a science of the arts as seen by a stalker of the wild mushrooms, Something Else Press, New York, 1969), während sein Freund Stephen Varble, mit einem Talar aus aneinandergeknüpften Holzshreds bekleidet, um den Erdhaufen tanzte. Hendricks trug einen schwarzen Frack. Vorsichtig und langsam krochen die Mäuse aus Jacken- und Hosentaschen, Ärmeln und Hosenbeinen. Und langsam nahmen die Anwesenden sie wahr, entzückt, gerührt, erschreckt, ratlos. Auf dem Marmorboden des Saals entstand eine bewegliche Zeichnung aus weißen Schleifen zu seinen Rändern und Ausgängen hin.  Im Keller vermehrten sie sich. Das Personal stellte Fallen auf.

 

Weißen Mäusen folgten weiße Tauben in großen weißen Käfigen, die an großen weißen, farbig akzentuierten Bildtafeln hingen. Roger Raveel hatte sie im Saal installiert (sie sind noch heute in seinem Museum in Machelen zu sehen), die weißen Stuccaturen des Festsaales ergänzten „himmlische“ Dekorationen, die die Luft zart bewegten und gelegentlich gurrten.

 

Ihnen folgten gemusterte Schlangen, die eine Künstlerin für eine Performance nutzte …und Tiger. Der alte Mann hat sich allerlei Ärger aufgeladen, als er lebende Tiger in sein Museum einlud. Für die Ausstellung „Fluchtpunkt Moskau“ hatte der junge russische Künstler Anatoli Osmolowski, berüchtigt für seine Aggressivität, 1994 vorgeschlagen, 3 lebende Tiger in einem Raum mit 3 „Tigern“ der europäischen Kunstgeschichte zu konfrontieren:  André Breton, Filippo Tommaso Marinetti und Wladimir Majakowski, revolutionäre Väter des Surrealismus und Futurismus in Paris, Mailand und Moskau. Es schien aussichtslos, sein Projekt zu realisieren, bis der Alt Breiniger Künstler Win Braun den Freund Althoff ansprach, der seinen Zirkus in Vennwegen im Winterquartier hütete. Die „Kapelle“ im Forum ist ein geeigneter großer Raum mit einem engen Eingang, der leicht zu vergittern wäre. Herrn Althoff machte es Spaß, das Wagnis des Transportes und dreitägigen Aufenthalts einer Tigerfamilie in einem Museum einzugehen. Die Tiger fühlten sich wohl. Die warme Bodenheizung des Parketts gefiel ihnen, und ab und zu sprangen sie zu den 3 Großfotos der Revolutionäre hoch und versuchten sie abzukratzen. Das Publikum drängelte sich am Gitter. Der Sammler Ludwig stimmte gern zu, dass ein lebender Tiger denn doch interessanter ist als ein gemalter.

Der alte Herr endete seine Karriere im Ludwig Forum nicht mit lebenden, sondern ausgestopften Tieren: Löwe, Nilpferd, Wasserbüffel, Wildschwein, Hirsch, Bär, Zebra. Sie tragen die Arche Noahs der Künstlerin Christiane Möbus. Sie nennt sie „Auf dem Rücken der Tiere“.

 


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Kalendergeschichte: Die Männer

 

 

Eine Kalendergeschichte nach Johann Peter Hebels Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes

Von drei Männern in meiner Straße 2015 – 2019

 

Der Mann, den ich vor der Erholungsgesellschaft in der Reihstraße ansprach, traute meiner Erzählung nicht: ich würde mich ohne Geld, Kreditkarte und Smartphone durch Europa bewegen und sei doch, wie er sehe, kein Obdachloser oder Bettler. Mein Hotel in Aachen koste 12 Euro pro Nacht. Mein Ziel sei eine Fallstudie über den Wohlstand Europas. Ich redete weiter, weil er mir zuhörte, ein alter Mann, ordentlich gekleidet, rasiert. Ich sei aus Arlington/ Virginia, Kind einer deutschen Mutter und eines Mitarbeiters der CIA in Langley und vor ihm und seinem Arbeitgeber geflüchtet; sie suchten mich, weil ich die Unterlagen über eine Geheimwaffe gestohlen hätte.  In Aachen sei ich, um einige Künstler wiederzufinden, die in Arlington, der Partnerstadt, ausgestellt hätten. Der alte Mann wurde müde, mir zuzuhören, dankte und gab mir drei 2-Euro-Münzen „für das Hotel“.

 

Er hatte mir gefallen, ich folgte ihm unbemerkt und merkte mir seine Wohnung im Patriarchenweg am Tempelberg. Offensichtlich ein Kleriker, ein „Heiliger Mann“. In den Mietwohnungen und Villen dieser Straße wohnen wohlhabende Bürger, und sein Haus ist mit fünf Stockwerken eines der höchsten. Zwei Tage später traf ich ihn wieder, als er aus der Tür trat. Er war überrascht, und ich riskierte, dass er mich für gefährlich zu halten begann. Weil er keine Münzen in seiner Jackentasche fand, zog er aus der Brieftasche vorsichtig einen 5-Euro-Schein und schien sich zu wünschen, mich nicht wiederzusehen. Ich schilderte ihm die Geheimwaffe, die mein Vater beschrieben hatte, eine unsichtbare ferngesteuerte Drohne, die größere Terrains mit hochgiftigen Mikroben bestäuben kann. Er ging unwillig davon.

 

Nachdem ich beschlossen hatte, einige Tage in Aachen zu bleiben, geriet ich in einer Spielhalle an eine Frau, die sie leitete. Sie wusste, dass mich Geld nur interessierte, um zu leben, und ich half ihr, ungebärdige Besucher zu besänftigen oder hinauszuwerfen. Ich bin mit 30 Jahren bei guten Kräften. Ihr Mann half am Abend, die Automaten zu leeren und die Beute in die Sparkasse zu bringen. Er war Hausmeister in mehreren Gebäuden und sorgte auch für Ordnung und Sauberkeit im Haus am Patriarchenweg. Durch ihn lernte ich die Putzkolonnen kennen, die die Flure und Treppenhäuser in den Gebäuden regelmäßig reinigen. Ich habe nicht verstanden, warum der Hausmeister bei einer der Mietparteien klingeln muss, damit dort der Druck auf einen Knopf das Schloss der schweren Haustür öffnet, während die Putzkolonnen offenbar einen Schlüssel besaßen.

Das Haus erregte mich. Langsam lernte ich alle Bewohner kennen, ohne dass sie den Beobachter auf der Straße beachteten, und dem alten Herrn ging ich aus dem Weg. Warum ein Mann mit zwei kläffenden Hunden zuweilen stundenlang vor dem Haus wartete, habe ich nicht herausgefunden. Ich entwarf Grundrisse der Wohnungen, der Keller und der Speicher. Es gelang mir auch, vom Tempelberg her die Gartenseite kennenzulernen, und dass über dem ummauerten Garten eine kleine Drohne surrte, steigerte mein Vergnügen. Ein Schuljunge, der im Erdgeschoss wohnte, lenkte sie.

 

In einer Prügelei vor der Spielhalle lernte ich einen Kroaten kennen, der mir half, mich zu säubern und zu verbinden. Ich sah noch immer nicht wie ein Obdachloser aus. Er trank gern und handelte mit Medikamenten und Drogen. Er liebte meine Geschichten aus den Schließfächern der CIA, und ich fügte der unsichtbaren Drohne einen Panzer hinzu, der voll verspiegelt sozusagen unsichtbar ist. Der Kroate führte mich in versteckte Gaststätten, und ich genoss die Gesellschaft, auf die ich zuvor verzichtet hatte.

Er wusste, dass ich das Haus im Patriarchenweg beobachtete und steckte mir eines Tages beiläufig einen Schlüssel zu. Er habe ihn von einem Freund, der eine der Putzfrauen kenne, die dort arbeiten. Sie wisse nichts davon, er habe ihn kopieren lassen. Dieser Schlüssel brannte wie Feuer in meiner Hosentasche. In einer dunklen Oktobernacht benutzte ich ihn ein erstes Mal, betrat die Garageneinfahrt, fand in der Garage zwischen vielen leeren Flaschen und Kartonagen ein Damenfahrrad, schlich im Erdgeschoss zu einigen Kellern, entdeckte ein kleines Weinflaschenlager in einem und fünf abgestellte Fahrräder hinter Mülltonnen in einem anderen, stieg hinab in den Tiefkeller und dann, da alle Parteien zu schlafen schienen, langsam hinauf durch alle Stockwerke bis in das Dachgeschoss. Durch die Dachluke strich der Wind, die aufgehängte Wäsche im Speicher flatterte laut. Ich war erschöpft und tastete mich abwärts, verzichtete aber nicht darauf, das Damenfahrrad und zwei Flaschen Wein mitzunehmen. Die Freundin des Kroaten bemängelte, dass am Rad die Lampe fehlte, In einer der nächsten Nächte habe ich sie gefunden.

 

Das Interesse an dem Haus, das der alte Mann erregt hatte, wuchs zu einer Leidenschaft. Jetzt wagte ich, tagsüber hineinzugehen, riskierte, gesehen zu werden und begegnete sogar im Halbdunkel einer der Einwohnerinnen, die mit der Auskunft zufrieden war, ich suchte meinen Gastgeber. Sie gab später bei der Polizei an, sie habe ein Tatou an meiner linken Wade gesehen und meine schwarz gefärbten Haare.

Was suchte ich?. Einmal öffnete ich im Dachgeschoss das Schloss einer der beiden Rumpelkammern gewaltsam, entdeckte unter den aufgehäuften Kunstobjekten eine Flasche, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, war enttäuscht, als ich die Lettern „H²O“ darauf fand und stellte sie auf den Boden. Mich bedrängte das Gefühl, in einer Schatzkammer zu sein, in der nichts meine Besitzgier erregte. Der alte Herr wohnte im 2. Stock. Ich stand vor seiner Tür und wünschte, ihm nicht mehr als ein Zeichen zu geben, indem ich in Höhe des Schlosses einige Ritzen in das Holz kratzte. Sie sollten so aussehen, als sei ich bei dem Versuch einzubrechen gescheitert.

Ich spürte, dass die Bewohner des Hauses miteinander über mich sprachen, die Hausverwalterin alarmierten und planten, ihre Wohnungen und Keller vor mir zu schützen. Sie setzten mich mit den zahlreichen Einbrechern gleich, die sich in der Herbstzeit zu bereichern versuchen. Ich aber fühlte mich hilflos, gedemütigt und erregt. Das Damenfahrrad und die zwei Flaschen Wein hätte ich gern zurückgebracht. Mein Unbehagen, meine Erregung, meine Traurigkeit drängten mich in das Selbstgefühl eines Märtyrers, der missverstanden wird. Mein kroatischer Freund und die Frau des Hausmeisters, die sich scheute, ihrem Mann etwas von dem Schlüssel zu erzählen, hielten mich für verrückt. Als ich ihnen erzählte, dass ich aus der Rumpelkammer im 5. Stock eine Bibel mitgebracht und darin zu lesen begonnen hätte, klopften sie mir auf die Schulter. Sie hofften, dass ich so meine Fieberanfälle und Stunden der Schlaflosigkeit bekämpfen könnte. Sie meinten, ein Joint würde helfen, die Bergpredigt zu verstehen.

 

Aber diese Geschichte von Jesus als Täter, als Volksredner, Demagoge und Wunderheiler, der als Opfer gekreuzigt wurde, diese Geschichte erschien mir jetzt wie eine pathetische Projektion meiner eigenen Geschichte, die sich kristallisierte, als ich dem alten Herrn in der Reihstraße das Leben eines Menschen skizzierte, der mittellos und verfolgt von dunklen Mächten in Aachen angekommen ist und auf seine Weise in einem  großen Haus eine Unterkunft sucht. Mein Zustand ließ jetzt nicht mehr zu, diese Nähe zu der biblischen Leitfigur zu verbergen. Das Haus sollte mir dazu dienen, sie allen zu offenbaren.

Die große Luke des Speichers erlaubt den Zugang zu den Dächern mehrerer Häuser. An einem Oktobermorgen stieg ich hinauf, legte meine Kleider beiseite und reckte mich nackt gegen den Himmel. Ich begann zu predigen wie Jesus auf dem Berg und unterstrich meine Worte mit Würfen von großen Dachziegeln, die ich abhob und hinunter auf die Straße und die dort parkenden Autos schleuderte. Es war kalt, aber die Bewegung tat mir gut; ich sprang zum Nachbardach hinüber und rief laut, damit alle meine Handlung verstanden: Ich bin Jesus! Eine wachsende Menge von Menschen hörte mir zu, Feuerwehr und Polizei sperrten die Straße. Aus Fenstern und Dachluken schauten gutmeinende Gesichter und baten mich, die Dächer zu verschonen und Menschen nicht zu gefährden. Aber ich war in einem Zustand seherischer Verwirrung, ich liebte mich, den hochgewachsenen nackten kraftvollen Helden mit flatternden Haaren, der nicht einen Diskus, sondern Dachziegel schleudert, der sich aus dem Gefängnis seiner Ängste vor unsichtbaren Drohnen, vor der CIA und seinem Vater befreit hat und wie Theseus aus dem Labyrinth von Knossos aus dem Haus in der Straße der Patriarchen hervortritt. Drei Stunden habe ich auf den Dächern getanzt. Dann hat mich die Kälte besiegt. Im Korb eines Krans hat mir der Therapeut eine warme Wolldecke über die Schultern gelegt und mich vor dem Erfrieren gerettet.

Nach der Therapie habe ich Aachen verlassen und versuche, das Experiment des geldlosen Lebens in Europa so fortzusetzen, dass es als Fallstudie veröffentlicht werden kann. Das Aachener Kapitel widme ich jenem alten Herrn, der es ausgelöst hat. Ich weiß jetzt auch, wie er heißt.

Wolfgang Becker

PS:

Kirchgänger in der Herz-Jesu-Kirche berichten von Einbrüchen um den Patriarchenweg und Aufträgen zu neuen Haustüren, Schlössern, Sprechanlagen Videoüberwachungen und Spezialschlüsseln an Schreiner, Schlosser und Schlüsseldienste. Ich erinnere mich, dass meine Mutter in der Lüneburger Heide von einer Firma um ihr Häuschen eine Lichtanlage installieren ließ. Ein Mann mit schwarzem Hut und weitem Mantel nahm den Auftrag entgegen. So, meinte sie, habe der ausgesehen, der in den vergangenen Nächten in der Dunkelheit angsterregend an ihren Rollladen gekratzt habe.

Abb. Gerhard Benz Keine Nähe ohne Ferne. Panzer 2015

 

 

Novelle


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Pralinen für Kuba

Kalendergeschichten – news – fake news

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Deer „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

PRALINEN FÜR KUBA

Auf dem Rollfeld des Flughafens von Varadero bewegte sich im Wind einer landenden Maschine ein Mann mühsam vorwärts, der auf jedem seiner Arme einen LADA-Reifen trug (eine begehrte Mangelware auf Kuba). Er war ein Minister, und sein Fahrer erwartete ihn an seinem Dienstwagen. Der Minister kam aus Düsseldorf und hatte in Aachen mit kubanischen Künstlern verhandelt. Ihnen war es gelungen, jenseits der polnischen Grenze auf einem der größten Schrottplätze Europas 3 LADA-Limousinen auszuweiden, aneinanderzuschweißen, zu glätten, zu lackieren und zu polieren, so dass sie einer U.S.-Großlimousine zum Verwechseln ähnlich sahen – ein Prachtstück kubanischen Erfindungsgeistes gegen den Protz der Millionäre in Miami. Sie wünschten es in Havanna auszustellen, und versuchten, ihn mit dem Geschenk von LADA-Reifen für sein eigenes Auto freundlich zu stimmen.

Der Geschäftsführer der Düsseldorfer Fluglinie hatte die Limousine besichtigt. Er war durchaus motiviert, viele Mittel einzusetzen, um die Flüge zu den sozialistischen Stränden und Hotels von Varadero deutschen Touristen anzupreisen, verteilte Flugtickets an kubanische und deutsche Künstler und Kuratoren und überredete seine Piloten, Kunstwerke als Sperrgüter in Passagiermaschinen mitzunehmen. Für die Limousine schlug er freilich an Ende einen Katamaran vor, der in Düsseldorf produziert und auf dem Rhein zu Wasser gelassen werden könnte. Er appellierte an die Direktion einer rheinischen Schokoladenproduktion, sich an den Kosten zu beteiligen und gewährte ihr das Privileg, in den Maschinen zwischen Düsseldorf und Varadero durch die Stewardessen Pralinés verteilen zu lassen.

Der Fahrer des Ministers lud die Reifen in den Kofferraum und bot seinem Dienstherrn ein Taschentuch. Der wischte sich die Schokolade von den Lippen.Ordo Amoris Taxi-Limousine 1988 aus 3 Ladas


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Ein Nachruf für Michael Schniedermeier

 

Ein Nachruf für Michael Schniedermeier

2007 sprachen wir in seinem Atelier im Süsterfeld über die Arbeit und die Ausstellung in der Galerie S. am Hof in Aachen, die er vorbereitete. Nein, er wollte den Raum nicht inszenieren, nur über sich sprechen, die Einsamkeit des Bildhauers.  Oder die Zweisamkeit: wie Aeneas seinen alten Vater Anchises aus dem brennenden Troja trägt. Er liebe die imposanten Figuren der Mythologie: Prometheus, den Minotaurus. Und er liebe die Geräusche des Bildhauers: Kratzen, Schneiden, Sägen im Gips und Holz, Matschen in Ton, Gießen in Bronze. Wir sprachen über das Handwerk des Bildhauers.

Schniedermeier hat von 1980 bis 2015 am Lehrstuhl für Plastik der RWTH gearbeitet und die Keramikwerkstatt, die Bronzegießerei und die Werkstatt der Bildhauerateliers geleitet. Zusätzlich unterrichtete er Bildhauerei in Stein und Holz. In den Kunstakademien von Düsseldorf und Maastricht hatte er sich gut vorbereitet. Er kannte sich aus.

Als wir 2007 sprachen, war er 55 Jahre alt. Er sei nicht jung und schön, jetzt interessiere ihn die Typologie des Alters, die Magerkeit, die Falten, der seherische Ausdruck – wie bei Giacometti – oder die metaphysische Perspektive wie die klerikalen Würdenträger bei Manzu. So einen Bischofshut könnte man aus Wachsplatten einfach zuschneiden. Und zur metaphysischen Perspektive die mythologische: Prometheus an den Block gefesselt, der weich geformte, fließende Körper an stereometrischem Kubus – das Gefängnis. Die Versuche der Befreiung verführen den Modellierer zur Bravura. Er denke an Francis Bacons Köpfe.

Er schenkte mir eine kleine Bronze. Er hat sie aus einem Stängel hochgewickelt, eine zierliche Büste mit einem grobschlächtigen Gesicht, über dem sich die Wölbung eines Schädels gewichtig aufbläht, als würde allein sein Gewicht den dünnen Stängel brechen. Ich umfasse den glatten Hinterkopf mit der Linken, hebe ihn hoch und fühle, wie Schniedermeier lustvoll mit den Fingern der rechten Hand die Gesichtszüge im weichen Gips modelliert hat.

Die Ausstellung in der Galerie S. ist ihm gut gelungen. Am 24. Oktober ist Michael Schniedermeier gestorben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ein Kommentar

Ein Jüdischer Gottesdienst in Aachen 1944

 

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Die 3. Kalendergeschichte: Ein jüdischer Gottesdienst vor Aachen 1944

 

In den letzten Oktobertagen war es kalt und unsäglich in Aachen. Nach den ohrenbetäubenden Detonationen des Artilleriefeuers breitete sich eine unheimliche Ruhe aus. Am 21. hatten die deutschen Truppen vor der 1. US-Infanteriedivision kapituliert. Die wenigen Einwohner, die in der zertrümmerten Stadt geblieben waren, verließen vorsichtig ihre Verstecke, um den einziehenden amerikanischen Truppeneinheiten zu begegnen.

Am 29. versammelte der Rabbi Lefkowitz des Armee-Corps in der sicheren Zone außerhalb der Stadt an den Höckern der Siegfried-Linie die Juden der Division zu einem besonderen Anlass. Er feierte mit ihnen, assistiert von dem Infanteriegefreiten Max Fuchs als Chassan (Kantor), den 1. Jüdischen Gottesdienst auf deutschem Boden seit dem Beginn des Dritten Reichs. Überliefert ist seine bewegende Botschaft: “How sweet upon the mountain are the feet of the messenger of good tidings. The light of religious freedom has pierced through the darkness of Nazi persecution.” (Wie süß sind auf dem Berg die Füße des Boten, der gute Nachrichten bringt. Das Licht religiöser Freiheit ist in die Dunkelheit der Nazi-Verfolgungen gedrungen.) Fünfzig jüdische Gis folgten als Minjan (Gemeinde) dem Kantor im Gesang des Kaddish, der Amida und der Haftara. Sie wussten, dass nicht weit von ihnen die Synagoge gebrannt hatte, dass Millionen ihrer Brüder und Schwestern getötet worden waren. Hier standen sie, den Massakern von Omaha Beach und Hürtgenwald entkommen, auf blutgetränktem deutschem Boden, um ein neues Kapitel der Geschichte des Judentums zu gestalten.

Mordechai Fuchs, dessen Gesang über die Felder schallte,  war als 12-jähriger mit seinen Eltern aus Polen in die USA eingewandert und hatte im Schülerchor der Yeshiva in der Lower East Side von Manhattan gesungen, aber hier auf einem Schlachtfeld die liturgischen Texte des Sabbat vorzutragen, hat ihn so bewegt, dass er heimgekehrt Kantor wurde und 39 Jahre lang in der Synagoge des Bayside Jewish Center in Queens gesungen hat. Er arbeitete ein Leben lang als Diamantschleifer.

Den Gottesdienst hatte das National Jewish Committee organisiert, und James Cassidy, Kriegskorrespondent der National Broadcasting Company, nahm ihn auf. Die NBC begriff die Bedeutung des Ereignisses und sendete die Aufnahme am nächsten Tag ungeschnitten über alle Stationen in den Vereinigten Staaten. Weitere Aussendungen folgten – bis zu einer redigierten Fassung in Youtube. Der Sänger und seine Stimme erreichten in Tagen der Erinnerung an den Holocaust große Bekanntheit. Interviews mit Fuchs erschienen in mehreren Zeitungen. Er ist 2018 94-jährig gestorben. Die New York Times widmete ihm einen langen Artikel.

Das Foto zeigt ihn vor Aachen singend (2. von links) neben dem weiß gekleideten Rabbi.

https://nyti.ms/2IUpglB

 

 

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Eine Seilbahn für Aachen

 

 

Kalendergeschichten – news – fake news

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Deer „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media  auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

Die 2. Kalendergeschichte:  Up-BUS. Die Aachener Seilbahn 2025

Ein Unfall hat die kleine Stadt Aachen erschüttert. Einer der Minibusse des öffentlichen Nahverkehrs, die vom Hauptbahnhof kommen und sich an der Normaluhr automatisch in die Seilbahn einklinken und erheben, ist unten stehen geblieben. Wir haben es gewusst, riefen alle, die sich für Aachen eine erdnahe Straßenbahn gewünscht hatten, und machten ihrem Unmut kräftig Luft.

Aachen ist eine Universitätsstadt mit zwei gleich großen Gruppen von Einwohnern: den langfristig ansässigen gesetzten, eher älteren, heiteren Rheinländern an der Grenze zu niederländischen und belgischen Nachbarn und den wechselnden, beweglichen, ehrgeizigen, erfindungsreichen, eher jungen Technikern, Ingenieuren aus aller Welt – die einen angeführt vom Bürgermeister und dem Stadtparlament, die anderen vom Rektor der Hochschule und seinen Institutsleitern. Wenn diese Würdenträger, ausgestattet mit ihren Amtsketten, nebeneinanderstehen, sind sie sich gleich.

Beide waren bereit, für ein notwendiges neues Verkehrsmodell in ihrer Stadt zu kämpfen, für die drastische Einschränkung des individuellen Autoverkehrs, für Fahrräder und Straßen- oder Seilbahnen. Die Position des Bürgermeisters war geschwächt: die Aachener hatten 1974 die Straßenbahn abgeschafft und 2013 gegen einen Neubau gestimmt. Mit dem Rektor wünschten sich viele, dass das Marketing der Stadt nicht mehr nostalgisch auf  Karl dem Großen, dem Karlspreis, dem Reitturnier,  den heißen Quellen und der Straßenbahn beharren, sondern die in der Welt beachteten  Erfindungen ihrer Ingenieure, ihre Beiträge zur Klimaforschung, zur Rettung des Planeten, ihre Visionen der Stadt der Zukunft in den Vordergrund stellen würde.

Über die futuristischen Visionen setzte der Rektor ein Markenzeichen, ein Symbol: upBUS, eine Kupplung, eine Schnittstelle, jenes Gerät, das modularen, autonomen, elektrischen Stadtbussen erlaubt, sich sekundenschnell in eine Seilbahn einzuklinken. So würde Aachen nicht eine Seilbahn wie Wuppertal oder Ascensores wie Valparaiso erhalten, sondern ein Verkehrsnetz, das sich schwebend in und über der Stadt bewegt und an Knotenpunkten mit dem konventionellen öffentlichen Nah- und Fernverkehr verbunden ist.

Rat und Verwaltung der Stadt beugten sich am Ende vor den Argumenten der Wissenschaft. Die erste Linie wurde eingerichtet. Seit 2023 steigt der Reisende vor dem Hauptbahnhof in einen Kleinbus, eine Kabine für 35 Personen auf einem elektrisch betriebenen Fahrgestell, fährt erdnah bis zur Seilbahnstation an der Normaluhr, gleitet empor und schwebt über die Wilhelmstraße und den Alleenring bis zum Klinikum. Er hat kaum bemerkt, dass sich die Kabine vom Fahrgestellt gelöst und in die Seilbahn eingeklinkt hat. Die nächste Kabine folgt im 30-Sekunden-Takt. In einer Stunde können bis zu 4.000 Passagiere befördert werden.

Die die Seilbahn tragenden Pylone, von denen einige auch die Stationen mit Fahrstühlen zum Erdboden enthalten, sind bis zu 60 m hoch. Anwohner haben bestätigt, dass Bauzeit und -aufwand, Staub, Schmutz und Lärm gering waren, erste Fahrgäste haben von den Ausblicken über die Stadt geschwärmt; wenige berichteten von Höhenangst. Die Erfolge der ersten Linie ermutigen, weitere zu bauen – etwa über dem Adalbertsteinweg und der Jülicher Straße. Stationen könnten auf den Dächern prominenter Bauten wie des Ludwig Forums eingerichtet werden, um die vorhandenen Fahrstühle zu nutzen und Besucher in das Museum zu locken.

Der Unfall erscheint den Aachenern als ein Menetekel. Wie konnte upBUS, eine patentierte Kupplung zwischen Elektrobusfahrwerk und Seilbahn, die sich im Weltraum bewährt hat, eine kompakte Scheibe, nicht viel größer als eine Bratpfanne, versagen? Die Medien führen upBUS vor, einen Knoten, der mechanische Lasten, Energien und Informationen übertragen muss. Aber die Ingenieure der RWTH sind überzeugt, dass sie uns ihre Zulieferer die Schwäche von upBUS, die zu diesem Unfall geführt hat, der Fabrikationsfehler einer Kupplung von vielen, bei dem niemand zu Schaden kam, beheben können. Dagegen kraulen die Aachener und der Bürgermeister verzweifelt zwischen Skylla und Charybdis: werden sie aufgeben und zum Projekt der Straßenbahn oder zum Busverkehr zurückkehren oder der Erfindungskraft ihrer Hochschule vertrauen? Sie wissen: im Stauland Deutschland, das auf den Individuellen Autoverkehr nicht verzichten, dessen profitable Fahrzeugindustrie das Land mit Elektro-, Wasserstoffautos und Hybridlimousinen füllen und den Fahrrädern E-Bikes und elektrische Roller hinzufügen wird, bleibt nur der teure Untergrund und die preiswerte Luft über den Straßen, um die zunehmenden Verkehrsströme zu beherrschen. Über der Seilbahn werden Flugtaxis kreisen. upBUS wird sich durchsetzen.  Aachen wird strahlen.