Beckeraachen

Kunstwechsel


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Wahlkampf im Ermüdungssyndrom

W AH L K A M P F   I M   E R M Ü D U N G S S Y N D R O M

Wer wird Oberbürgermeister der Stadt Aachen, Chef von 5.000 Mitarbeitern? (10.000 leitet der Rektor der RWTH!). Sucht man ihn dort, wo er eine große Zahl von Menschen erfolgreich geführt hat?  Darf er die Ideologie und das Programm einer Partei vertreten?

M u s s   er nicht der Bürgermeister   a l l e r    Aachener sein?

Die Gesichter auf den Wahlplakaten verwirren. Die meisten, denen sie gehören, wollen gar nicht Oberbürgermeister werden. Alle Köpfe stehen für die Programme der Parteien, die sie im Stadtrat vertreten werden. Geben ihre Gesichter das her? Nehmen sie die Botschaften ernst, die sie verkünden?  Sind sie stolz, Kandidaten zu sein oder leiden sie an dem bekannten „demokratischen Ermüdungssyndrom“?

Die Gewählten werden im Rathaus eine Tagesordnung vorbereiten, mehrheitliche Einigkeit über Projekte suchen, die sie zu realisieren aufgerufen sind – Adalbertstraße, Bushof, Camp Hitfeld, Klimaschutz -; sie werden über ihrer Finanzierung in Streit geraten und beschließen, von 50 Projekten 40 dem nächsten Stadtrat zu überschreiben. Das Parkhaus am Büchel werden sie abreißen lassen und  88 Vorschläge zur Bebauung des Geländes prüfen. Ihre Arbeit wird im Schatten von Machtkämpfen in unsichtbaren Netzwerken  stehen.

Der Zuwachs kleiner Parteien und Nicht-Parteien zeigt die Krise der parlamentarischen Demokratie. Sie führt zu schwachen Mehrheiten, Zank und Streit. Der Mikrokosmos der Hausgemeinschaften, Stadtviertel, Clubs, Gemeinden und Vereinen, der zu „unabhängigen Wählergemeinschaften“ geführt hat, wird nur dann im städtischen Parlament wirksam, wenn seine Sprecher als Bürgerschaftsvertreter in Ratssitzungen gehört werden – oder nicht gewählt, sondern in einer Lotterie vom Los bestimmt ein zweites Parlament bilden, wie David van Reybrouck vorschlägt.

Das Straßenbild des Aachener Wahlkampfes 2020 verrät das „Ermüdungssyndrom“. Die Fotografien der Kandidaten, die Flugblätter und Plakate, die die Straßenränder dekorieren, haben die Politiker im Zweifel selbst hergestellt. Werkstätten der Hochschulen können hier nicht ihre Kreativität ausprobiert haben. Haben die Politiker sich geschämt, kulturelle Eliten einzuladen, ihre Arbeit zu unterstützen? Die Studios für Graphic Design, die Werbeagenturen? In ihren Bildern nehmen sie sich selbst nicht ernst, schauen weg, kokettieren als „Querdenker“ und beschädigen den Ruf der parlamentarischen Demokratie und ihrer Regeln. Ihre Lustlosigkeit lähmt ihre Kraft, das Ritual der Wahlkämpfe zu erneuern. Die kulturellen Eliten dieser Universitätsstadt bringen sie nicht in diese Wahlkämpfe ein. Im Stadtrat werden sie nicht. sitzen. Der Rektor der RWTH und seine 100.000 Mitarbeiter sind an den Entscheidungen der Stadt demokratisch nicht beteiligt.

Nach einem Vorbild der alten Griechen hat David van Reybrouck in Deutsch-Belgien vorgeschlagen, das System der Wahlen, das Abstimmen mit Mehrheiten in Machtkämpfen von Netzwerken durch eine Lotterie zu erweitern, in der Lose die Kandidaten bestimmen. Das würde müde Geister beleben, Spaß und Papierkriege unter 2000 Wahlhelfern überflüssig machen.


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Carte Blanche

HOMMAGE A KARL VON MONSCHAU

C A R T E   B L A N C H E    –   B L A N K O S C H E C K   –   B L I N D E   K U H

Den Wert eines Blankoschecks bestimmt seine Unterschrift. Man hat sie geprüft: Schielt ihr Autor? Ist die Hornhaut seiner Augen verkrümmt? (Man erklärte so die Bilder der Impressionisten. Monet soll farbenblind gewesen sein.) Schloss der Autor die Augen, als er signierte? Ist er blind? (Ja, es gibt blinde Maler und Fotografen!). Haben wir es mit dem Blankoscheck einer Blinden Kuh zu tun?   

Wenn einem Kind ein Holzscheit in ein Auge fährt, und die Ärzte viel Zeit für die Reparatur brauchen, messen sie die Sehschärfe wieder und wieder an den Landoltringen, bevor sie Buchstaben und Zahlen nutzen. Dieses Kind wird die Kreisringe mit ihrer versetzten Öffnung nie vergessen und lebenslang um seine Sehkraft fürchten. Es wird gierig die Welt betrachten, in Besitz nehmen, nicht immer signieren; unbändig wird seine Sehnsucht sein, das, was es sich angeeignet hat, anderen zu zeigen: anonyme Fundstücke, einen Kiesel, eine Birkenrinde, die Arbeit eines Bekannten oder Unbekannten, das Foto eines Papua, auf das es seinen Pinsel legt. Es sammelt, es hortet, es zeigt die Schätze, stellt sie aus, sucht die Aufmerksamkeit von vielen. Es signiert, autorisiert sie, fügt ihnen die Landoltringe hinzu. Mit ihnen spielt es öffentlich, vor seinen Freunden, vor der ganzen Welt, als wären sie die olympischen, die den festlichen Zugang zu der lateinischen Losung gewähren  SATOR TENET ROTAS – eine Carte Blanche.

Die Sorge um die Sehschärfe teilt es den Betrachtern seiner Bilder mit. Keiner sollte sich einem Sehtest entziehen. Der Klient muss das, was er sieht, in Worten benennen. Er wird entdecken, dass Bilder sich verweigern: dass ihre Elemente einander zu nahe rücken (crowding), um gelesen zu werden, oder dass sie sich im zerdehnten Kontext verinseln… Anders als vor Plakaten muss er bereit sein, die Botschaft zu suchen. Er kann dazu den Monschauer Kunst-Automaten benutzen: der fordert Münzen und Handgriffe, ein Blinder könnte ihn bedienen.

Das sublimste Versteck, das der Erfinder der Carte Blanche entwickeln kann, ist die Ausstellung selbst: von Werken, die er nicht kennt, von Künstlern, die er nicht kennt. Er könnte einen Nachbarn bitten, sie auszusuchen und bliebe den Beteiligten schuldig, Gründe zu nennen. Er selbst müsste sich inständig bitten lassen, an der Ausstellung teilzunehmen – mit einem Bild, das niemand als eines erkennen würde, das er gemalt hat.

Ich bin eingeladen, zur Eröffnung dieser Ausstellung zu sprechen. Aber eine Seuche verhindert meine Anwesenheit. Gäste sind gebeten, Abstände einzuhalten.

C A R T E   B L A N C H E 

Eurode-Bahnhof Herzogenrath Eröffnung Sonntag 30. August 2020

Jpeg


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G R AD I V A

35. Kalendergeschichte

 G R A D I V A

Der niederländische Bildhauer Mark Manders hat in Ronse, Ostflandern, ein großes Atelier, um raumgreifende, schwere Skulpturen aus Holz und Gips-, Kreide-, Lehm-verkleideter Bronze zeitaufwendig zu entwickeln und zu lagern. In den letzten Wochen hat er in den Räumen des Maastrichter Bonnefantenmuseums eine atemberaubende Inszenierung geschaffen. Im letzten großen Saal meint man, „Gradiva“ und ihrer Schwester gegenüber zu stehen: zwei mächtigen, zeitlos schönen Mädchenköpfen, die so tun, als gehörten langestreckte „Bein“-Glieder zu ihnen;  eine Bretterscheide halbiert sie, als wäre ihre linke Hälfte das Spiegelbild der rechten. Am Ende ist die eine „Gradiva“ der Zwilling der anderen.

Das „pompejanische Phantasiestück“ „Gradiva“ hat der dänische Schriftsteller Wilhelm Jensen vor einem antiken Relief in Rom 1903 entwickelt, dort zieht das Relief einen jungen Archäologen in seinen Bann, und zwischen Wachen und Träumen begegnet er der jungen Frau in Pompeji wirklich. Sigmund Freud hat „Wahn“ und „Träume“ des Archäologen 1907 gedeutet – und die Novelle des unbekannten Dänen unsterblich gemacht. Im Surrealismus des 20 Jahrhunderts ist die schöne junge Frau zwischen Wahn und Traum als Muse gegenwärtig. Dali nannte seine Frau Gala zärtlich Gradiva. Sie ist Teil jener griechischen Bilderwelt, die die europäische Kunstgeschichte und Kultur geprägt hat. Von de Chirico bis zu Anne und Patrick Poirier und ihren weitläufigen Maquetten antiker Ruinenstädte – bis zu Mark Manders wird man sie wiederfinden.  

Das Brett, das die Gesichter der Schwestern teilt, begegnet hier in anderen Köpfen von jungen und reifen Frauen und sogar dort, wo ich einen Christuskopf erwartete, am Torso einer Figur, die demonstrativ vor einem Querbalken, als wären es seine Arme, über einen schweren Tisch an das Gewicht eines von vier Stühlen gespannt ist.

Mark Manders (1968*) hat seine Werke an vielen Orten der Welt gezeigt,  die heile Klassizität der Figuren, Köpfe und Gesichter, die Erinnerungen an griechische und ägyptische Antiken, die sie wecken, die archäologischen Verstümmelungen schaffen geistige Räume von hoher Faszinationskraft, die schnell aus der aktuellen Alltagswelt in ein Reich der Träume führen. Wo das Museum selbst nicht ausreicht, um diesen weltabgewandten Raum zu bieten, schließt Manders Figuren in große Vitrinen aus schwerem Kristallglas ein – eine kostbare Gegenwelt, die in ihren Trümmern voller Schönheit ist.


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Guadalupe Bocanegra

34. Kalendergeschichte

Guadalupe Bocanegra

Im Ballsaal des Alten Kurhauses in Aachen erzählte mir ein alter Mann diese Geschichte:

Im Mai 1987 bereitete ich ängstlich hier eine kleine Bühne für eine Performance vor. Der tunesische Künstler Nja Mahdaoui würde den Körper der mexikanischen Schauspielerin Guadalupe Bocanegra mit arabischen Kaligrammen bemalen – die Nacktheit einer Tänzerin mit Schriftzeichen bedecken, wie sie für Texte aus dem Koran uns und allen Moslems bekannt sind.  Eine Blasphemie? Unverschleierte? Nackte? Ein Skandal?

Ich hatte Mahdaoui in seinem Haus (von ihm einem Schneckenhaus nachgebaut) in La Marsa nahe dem Karthago-Museum besucht. Seit er die Flughäfen von Jeddah und Ryadh in Saudi-Arabien ausgestattet hatte (er erzählte vergnüglich, dass er sein Honorar in einer mit Dollarbündeln gefüllten Truhe im Büro des Auftraggebers selbst bestimmen durfte – ein schrecklicher Moment!), war er in arabischen Ländern bekannt und bemühte sich um eine Ausstellung im Institut du Monde Arabe, das in Paris 1980 eröffnet worden war. Seine französische Frau lehrte ihre Sprache an einer Schule in Tunis. Sie zeigten mir ihre große Bibliothek und Plattensammlung. Ich musste ihm glauben, dass seine kalligrafischen Improvisationen nicht einen einzigen Hinweis auf den Koran enthalten, dass die Buchstaben  einem lesekundigen Araber keinen sinnvollen Text bieten, dass ihn nur das Schreiben/ Malen mit schwarzer Tusche, Feder und Pinsel, die graziöse Bewegung und die Schönheit der arabischen Schriften  interessierte.  Diese Bewunderung teilte ich seit meinem Besuch einer Kaligrafenschule in Bagdad. Er füllte kleine, große Papiere und ganze Wände mit solchen „Schrift“-Zeichnungen und ergänzte sie durch Farbakzente. In Bergisch Gladbach hatte er die Papierfabrik Zanders auf der Suche nach Papieren, Zellstoffen und Pulp besucht und dort den Künstler Wolfgang Heuwinkel kennen gelernt, mit dem er fortan zusammenarbeitete.

Am 14. Mai saßen nicht mehr als 30 Personen im Ballsaal. Beide Akteure hatten zuvor 24 Stunden gefastet und näherten sich einander, ohne sich zu begegnen. Es wird still. Guadalupe tritt tanzend zu einer Musik „La soif de vivre“ schwarz verschleiert mit roter Maske auf die Bühne und lässt sich auf einer Matte nieder. Nja kniet in bürgerlicher Kleidung vor ihr mit weichem Pinsel und Farbtopf. Die schwarze Tusche hat er angewärmt, um ihre Haut nicht zu erschrecken.  Eine Stunde lang schreibt er sanft, vorsichtig von den Armen und Beinen zur Mitte ihres Körpers hin, füllt Brust, Bauch und Schoß stärker als den großen Rücken. Sie bewegt sich dem Pinsel entgegen, schmiegt sich in die Armbeuge des Malenden; ihm stehen Schweißtropfen auf der Stirn; die Zuschauer sind gefesselt. Anders als bei Tattoos entstehen hier keine Bilder, sondern Farbbewegungen, die aus den vom Pinsel erregten Zonen unter der Haut hervorzuwachsen scheinen. Die arabische Kalligrafie ist dem Künstler nur noch eine Gewohnheit, an die er sich in diesem ungewöhnlichen Prozess nicht gebunden fühlt.

Nach dem Ende lockerten sich die Zuschauer in Gesprächen mit Mahdaoui. Protestiert hat niemand. Ein Araber gab sich nicht zu erkennen. Mahdaoui gratulierte zu meinem Mut. Im Pariser Institut du Monde Arabe könnte die Performance nicht stattfinden.  Aus den Fotos der Anne Gold und Texten der Beteiligten ist eine kleine Broschüre entstanden, die den ungewöhnlichen Vorgang festhält. Guadalupe Bocanegra starb 2019 in Paris.  1999 bis 2004 hat sie dort im Frida Kahlo – Festival die berühmte mexikanische Malerin „nachgelebt“.  Mahdaoui hat zuletzt die Geschäftszentrale von Facebook in San Francisco ausgestattet – arabisch kalligrafisch, versteht sich. 


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Auf zur Kommunalwahl

A U F   Z U R   K O M M U N A L W A H L   ln Aachen

A

In der bedeutsamen Corona-Krise und Hitzewelle des Anthropozäns beginnt der Wahlkampf mit bescheidenen Botschaften in den Zeitungen und Plakaten. Die wir wählen, sollen uns doch nicht zuhören, sondern sagen, was sie vorhaben.

Werden Sie den wachsenden Hitzewellen entgegenwirken? Den Seuchen, die zunehmen werden? Dem Verlust des Wassers? Der Zunahme der Trockenheit? Der neuen Bevölkerung?

Werden Sie die Straßenbäume bewässern? Bäume pflanzen?

Werden Sie die Innenstadt weiter entdichten, den Beton der Häuser mit den Bäumen und Sträuchern als Luftfänger kühlen?

 Werden Sie den Bushof strahlend weiß streichen, Wände und Balkons bepflanzen und seine Satelliten schließen, die den Drogenhandel begünstigen? Werden Sie den Geflüchteten, die dort verwirrt und verängstigt Freunde suchen, Helfer und Berater schicken, die ihnen den Zugang zum Job-Center und zu Zeit-Arbeitsfirmen erleichtern?

Werden Sie das Parkhaus am Büchel abreißen, die Heilquellen darunter öffnen, die Goldene Reiterstatue des Kaisers Theoderich entdecken, einen luftigen Park pflanzen, die Freunde in Ningbo bitten, dort einen chinesischen Teepavillon einzurichten wie in Marzahn?

Werden Sie den Autoverkehr aus dem Stadtkern verbannen, die Straßen und Plätze für Spaziergänger attraktiv machen und gesperrte Wege für Fahrräder, E-Bikes und Roller einrichten? Werden Sie die sensationelle up-Bus-Seilbahn einrichten, die die RWTH zu realisieren vorbereitet ist?

 Werden Sie die energiefressenden Klimaanlagen in öffentlichen Gebäuden kontrollieren? Dann, wenn sie nicht besucht werden, abschalten?

Werden Sie auf Camp Hitfeld über dem vergifteten Gelände eine Photovoltaikfreiflächenanlage einrichten, die den Bedarf der Stadt an erneuerbarer Energie um 20 % steigern würde?

Werden sie die Museen verpflichten, aufwendige Flugtransporte von Kunstwerken, klimatisierte Transportkisten und Flugreisen von Gastkonservatoren zu Wechselausstellungen von internationalem Prestige zu vermeiden?

Werden Sie den Künstlern, denen der Corona-Kulturgroschen des Kulturministeriums und Spenden der Bürger geholfen haben, ihre Existenz zu sichern, die Möglichkeit geben, sich nun

in den Museen denen zu zeigen, die an sie gedacht haben?

Werden Sie das Elend der Vorstellungen und Stellenbesetzungen in den Museen beenden, damit sie wieder zu Leuchttürmen der Kulturarbeit werden können?

Werden Sie in Rat und Verwaltung kleine Sprachschulen in niederländisch und französisch einrichten, damit die Zusammenarbeit mit Menschen in der Euregio wie in der Städteregion aufgebaut werden kann?

Werden Sie die zahlreichen leerstehenden Wohnungen und Läden der Innenstadt besetzen, aneignen, entleeren, reinigen und nicht nur den Vertretern der „freien“ Kultur, sondern all denen zur Verfügung stellen, denen Wohnungen gekündigt wurden und die in Parks und öffentlichen Garagen nächtigen und tagsüber auf der Suche nachmildtätigen Helfern und öffentlichen Toiletten sind?

HÖREN SIE ZU?

KÄMPFEN SIE UM IHRE GLAUBWÜRDIGKEIT!

W A S   WIR WÄHLEN ZÄHLT:

NICHT W E N.

Abb. Lilith Lindner Bastei http://www.lilithlindner.de


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Dali´s Santa Lucia

34. Kalendergeschichte

Salvador Dali´s Santa Lucia

Ein alter Mann in Aachen erzählte diese Geschichte über den berühmten Salvador Dali:

Er war70 Jahre alt und hatte mich in sein Winterquartier, das St. Regis Hotel in New York eingeladen. Er würde nicht dulden, dass die Fotorealisten der Sammlung Ludwig, die ich betreute, ohne ihn durch Europa wanderten. Er zeigte mir nicht seine Suite 1610, nicht seinen Ozelot, sondern empfing mich mit meinen Begleitern, dem ungarischen Maler Laszlo Lakner, der sich um einen Kontakt zu Ivan Karp, dem Händler der Hyperrealisten, bemühte, und dem italienischen Sammler Enrico Pedrini im Vestibül, begleitet von seiner Freundin und Muse Amanda Lear. Wir waren sehr aufgeregt, hatten viel getrunken und saßen dem berühmtesten Schausteller unter den Künstlern der Gegenwart gegenüber, der sogar Andy Warhol an ein Spinnrad gebunden und mit Farbe übergossen hatte.  Er schlug mir vor, die Hyperrealisten von Chuck Close und Richard Estes bis zu Jean Olivier Hucleux und Gerhard Richter unter seinem Schirm im jüngst eröffneten TEATRO MUSEO in Figueras auszustellen. Der Filmregisseur Hector Babenco kam vorbei und fragte nach Gala. Unvergesslich antwortete Dali: „She´s upstairs with her Lover“. Wir wurden miteinander bekannt.

Ein Jahr später, 1975, lud er mich in sein 2. Quartier, das Le Meurice in der Rue de Rivoli in Paris ein. Der rumänische Kunstkritiker Radu Varia, der an der Einrichtung des Dali-Museums in Figueras mitgearbeitet hatte, führte mich in die Suite 108 im 1. Stock des Luxushotels. Dali wusste nun mehr über mich, Aquisgran, Carlo Magno, die Kapelle des Imperators – und den Ballsaal der Neuen Galerie. Den Salon besetzten 12 Schaufensterpuppen in weißen Brautkleidern auf einem großen hölzernen Schlitten. Diener zündeten die Kerzen auf den Kränzen an, die die Köpfe der jungen Frauen schmückten: Dalis Beitrag zum Lichterfest der Heiligen Lucia, einer Syrakuser Märtyrerin in den Christenverfolgungen Diokletians, deren Reliquien heute in Venedig verehrt werden. Die Heilige des Lichtes (Lux,Luce) wird in vielen christlichen Gemeinden der Welt verehrt, und ihr Jahrestag am 13. Dezember ergänzt die Wintersonnenwende und das Weihnachtsfest. Schwedische unberührte Jungfrauen wünschte Dali sich für den Schlitten und schlug mir die Inszenierung für den Ballsaal vor, wenn ich ihm die Erlaubnis beschaffte, sich auf dem Thron Karls des Großen im Aachener Dom fotografieren zu lassen. Wenn auch Radu Varia mich drängte, wenngleich ich den brillanten Stillleben-Maler und großartigen Schausteller verehrte, das Privileg, öffentlich auf dem Kaiserthron zu sitzen, sollte einem Künstler verwehrt sein.

Die Heilige Lucia hat Dali begleitet, seit er 17-jährig ein Bild des Lichterfestes von Santa Lucia in Villa Malla in Katalonien gemalt hat. Das Drama ihrer Verstümmelung. der Verlust der Augen, mag ihn, den Augenmenschen besonders berührt haben. 1971 inszenierte er seine Freundin Amanda als die Heilige, und David Bailey fotografierte sie für VOGUE – in einem  weiten weißen, drapierten Umhang mit der Krone der Märtyrerin und einem schwarzen Überwurf; mit weiß geschlossenen Augen; sie bietet auf einem großen weißen Teller zwei weiße Gegenstände an – Eier oder Mozzarella-Kugeln. Wir verstehen, dass es ihre Augen sind, die die Mörder der Märtyrerin ausgerissen haben. Aber die Legende berichtet auch, dass sie den Verfolgten Nahrung angeboten hat und deshalb in den Verstecken Kerzen auf dem Kopf trug. Dali wusste mit uns, dass sein Wunsch nach Jungfrauen für seine Präsentation im Ballsaal nicht erfüllt würde; aber 15 Schwedinnen feierten am 13. Dezember  das Lichterfest auf seinem Schlitten in Le Meurice.

1951 gegründet, wird die „Nacht der Heiligen Lucia“ „Festa de las lletres Catalanes“ von katalanischen Schriftstellern, Dichtern, Philosophen zu Ehren ihrer Sprache am 13. Dezember gefeiert – nach dem Tod Francos 1975 öffentlich.

    Abb. Amanda Lear als Santa Lucia, Foto David Bailey  VOGUE 1971


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Begräbnis der Mona Lisa

32. Kalendergeschichte

Begräbnis der Mona Lisa – Todessehnsüchte

2019 feierte der Louvre den 500. Todestag Leonardo da Vincis mit einer großen Ausstellung, In der Vorbereitung untersuchten die Restauratoren die Mona Lisa gründlich in ihrer Werkstatt. Der alte Riss in der Pappelholz-Tafel hatte sich so geöffnet, dass das Brett auseinander zu fallen drohte. Hinter der Schutzscheibe hatte ein dichtes Craquelé das ganze Bild überzogen, immer mehr Farbfetzen lösten sich von der Tafel, als die Glasplatte sie nicht mehr hielt. Würde man die Übermalungen der alten Restaurierungen entfernen, bliebe vom berühmten Lächeln nur eine Grimasse. Die Restauratoren sahen sich außerstande, das Bild in einen Zustand zu versetzen, der erlaubt, es 10.000 Besuchern täglich zu präsentieren, sie empfahlen, es durch eine Kopie zu ersetzen und das Original zu vernichten. Gegen den Protest des Museumsdirektors stimmte die Assemblée Nationale der Empfehlung der Restauratoren zu und beschloss ihren Tod und ein Staatsbegräbnis in der Sainte Chapelle. Der Entschluss fiel umso leichter, als weder Lisa Gherardini, genannt Mona Lisa noch Leonardo, ihr Porträtist, Franzosen, sondern Florentiner waren.

Mona Lisa Ausschnitt

Nach dieser Entscheidung diskutieren viele Kunsthistoriker-, -kritiker, – sachverständige, Hunderttausende von Kunstwerken der Vergangenheit und Gegenwart für tot zu erklären, zu begraben, zu verbrennen oder zu recyclen.  Sie sind von großen Mengen originaler und gefälschter Bilder und Skulpturen umgeben, die der rasanten Vermehrung der Erdbevölkerung geschuldet sind. Künstler der Gegenwart versuchen, solche Absichten zu unterlaufen: sie stellen Bilder oder Skulpturen her, die sich schnell oder langsam selbst zerstören (Banksy), schaffen Denkmäler für Künstlernekropolen (Hallmann in Kassel) oder hinterlassen testamentarisch ihre Körper Museen moderner Kunst (Sonfist in New York). Witwen suchen Nachlassverwalter (Brauweiler) und bemühen sich um großzügige Schenkungen an Museen. Museen überfüllen ihre Lager mit werken aus den Schauräumen, die sie aus politischen Gründen (Rassismus, Feminismus) entfernen, überlassen ihren Restauratoren, etliche herzurichten und auszuleihen oder zu verkaufen.

Mengenprobleme sind in sozialistischen Ländern und in den Niederlanden entstanden, wo Künstler als Staatsangestellte bezahlt wurden. Im Archiv der DDR-Kunst in Beeskow lagern 23.000 Werke. In den Kunstveraltungs-Büros der EU in Brüssel und Straßburg versucht man ebenso wie in den Ministerien der Mitgliedstaaten, die Lager zu entlasten und angemessene Arbeiten in Büros aufzunehmen. Dennoch: das deutsche Parlament gewährt der deutschen Kulturstaatsministerin in der Coronakrise 300 mio. € zur Erweiterung der Kunstsammlung des Bundes.

Die Lagerung von Kunstwerken führt dort zu einem natürlichen Schwund, wo der Aufwand für Klimaanlagen, Sicherung und Bewachung aus Kostengründen gescheut wird. Die Kunstwerke verelenden und sterben. Am besten sind jene Lager ausgerüstet, die in zollfreien Zonen von internationalen Verkehrsknoten teure Kunstgüter verwahren. Ihr Handelswert sichert ihnen lange Lebensdauer, bis sie gewinnbringend von Hand zu Hand steuerbefreit in ein staatliches Museum gewandert sind. Erst dort sehen sie denen zu, die auf ihren Tod warten. In Brüssel wird über Gesetze diskutiert, die Vernichtungen von Kunstwerken erlauben – unter Bedingungen, die jeden Missbrauch ausschließen. Museen sollen legitimiert werden, in ihren Gärten Friedhöfe einzurichten, auf denen Grabsteine mit angemessenen Informationen über die Toten berichten. Sie könnten USB-Sticks, DVDs oder andere Konserven enthalten.

Kriege und Naturkatastrophen haben nicht nur zahlreiche Kunstwerke, sondern Schlösser, Kirchen, Rathäuser, Villen und Industriebauten zerstört oder beschädigt. Bis heute hat die Denkmalpflege ihre Arbeitsbereiche erweitert. Notre Dame in Paris oder der Dom in Aachen sind Heiligtümer, die, robuster als die Mona Lisa, über die Jahrhunderte restauriert, ergänzt, Stein um Stein ausgewechselt, bemalt und so ausgestattet worden sind, dass der ursprüngliche Zustand kaum zu erkennen ist. Im Gegensatz zum Christentum lässt der japanische Shintoismus Verfall und Aufrüstung seiner Heiligtümer nicht zu. Im Ise-Jüngu- Heiligtum hat man mir unter hohen Zypressen den „inneren“ Hauptschrein vor etwa 125 Schatzhäusern aus Holz gezeigt, die seit 2 Jahrtausenden fortlaufend variierend im Shimmei-Zukuri-Stil erbaut worden sind. Die Bäume, an die sie sich anschmiegen, sind älter, denn die Gebäude werden alle 20 Jahre abgerissen und ohne Veränderung neu gebaut – aus Hinoki-Scheinzypressen die im benachbarten Hain geforstet werden – 2033 wird das Ritual des Neubaus wiederum vollzogen. Heiligtümer dürfen nicht altern, anders als die Menschen, die sie verehren und die Bäume, die sie umhüllen.    

Die Corona-Krise lässt zur Zeremonie des Staatsbegräbnisses in der Sainte Chapelle nicht einmal alle Mitglieder der Nationalversammlung und ihre italienischen Gäste zu. Der Louvre gewährt an diesem Tag freien Eintritt und bietet eine schwarze tüllbesetzte Anstecknadel mit dem Abbild der Mona Lisa als Erkennungszeichen an. Eine Million davon ist in Auftrag gegeben.