W AH L K A M P F I M E R M Ü D U N G S S Y N D R O M
Wer wird Oberbürgermeister der Stadt Aachen, Chef von 5.000 Mitarbeitern? (10.000 leitet der Rektor der RWTH!). Sucht man ihn dort, wo er eine große Zahl von Menschen erfolgreich geführt hat? Darf er die Ideologie und das Programm einer Partei vertreten?
M u s s er nicht der Bürgermeister a l l e r Aachener sein?
Die Gesichter auf den Wahlplakaten verwirren. Die meisten, denen sie gehören, wollen gar nicht Oberbürgermeister werden. Alle Köpfe stehen für die Programme der Parteien, die sie im Stadtrat vertreten werden. Geben ihre Gesichter das her? Nehmen sie die Botschaften ernst, die sie verkünden? Sind sie stolz, Kandidaten zu sein oder leiden sie an dem bekannten „demokratischen Ermüdungssyndrom“?
Die Gewählten werden im Rathaus eine Tagesordnung vorbereiten, mehrheitliche Einigkeit über Projekte suchen, die sie zu realisieren aufgerufen sind – Adalbertstraße, Bushof, Camp Hitfeld, Klimaschutz -; sie werden über ihrer Finanzierung in Streit geraten und beschließen, von 50 Projekten 40 dem nächsten Stadtrat zu überschreiben. Das Parkhaus am Büchel werden sie abreißen lassen und 88 Vorschläge zur Bebauung des Geländes prüfen. Ihre Arbeit wird im Schatten von Machtkämpfen in unsichtbaren Netzwerken stehen.
Der Zuwachs kleiner Parteien und Nicht-Parteien zeigt die Krise der parlamentarischen Demokratie. Sie führt zu schwachen Mehrheiten, Zank und Streit. Der Mikrokosmos der Hausgemeinschaften, Stadtviertel, Clubs, Gemeinden und Vereinen, der zu „unabhängigen Wählergemeinschaften“ geführt hat, wird nur dann im städtischen Parlament wirksam, wenn seine Sprecher als Bürgerschaftsvertreter in Ratssitzungen gehört werden – oder nicht gewählt, sondern in einer Lotterie vom Los bestimmt ein zweites Parlament bilden, wie David van Reybrouck vorschlägt.
Das Straßenbild des Aachener Wahlkampfes 2020 verrät das „Ermüdungssyndrom“. Die Fotografien der Kandidaten, die Flugblätter und Plakate, die die Straßenränder dekorieren, haben die Politiker im Zweifel selbst hergestellt. Werkstätten der Hochschulen können hier nicht ihre Kreativität ausprobiert haben. Haben die Politiker sich geschämt, kulturelle Eliten einzuladen, ihre Arbeit zu unterstützen? Die Studios für Graphic Design, die Werbeagenturen? In ihren Bildern nehmen sie sich selbst nicht ernst, schauen weg, kokettieren als „Querdenker“ und beschädigen den Ruf der parlamentarischen Demokratie und ihrer Regeln. Ihre Lustlosigkeit lähmt ihre Kraft, das Ritual der Wahlkämpfe zu erneuern. Die kulturellen Eliten dieser Universitätsstadt bringen sie nicht in diese Wahlkämpfe ein. Im Stadtrat werden sie nicht. sitzen. Der Rektor der RWTH und seine 100.000 Mitarbeiter sind an den Entscheidungen der Stadt demokratisch nicht beteiligt.
Nach einem Vorbild der alten Griechen hat David van Reybrouck in Deutsch-Belgien vorgeschlagen, das System der Wahlen, das Abstimmen mit Mehrheiten in Machtkämpfen von Netzwerken durch eine Lotterie zu erweitern, in der Lose die Kandidaten bestimmen. Das würde müde Geister beleben, Spaß und Papierkriege unter 2000 Wahlhelfern überflüssig machen.
