K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.
Kunst ABC AVZ 1974
F O T O R E A L I S M U S
Um die mit den Augen wahrnehmbare, räumliche, 3-dimensionale Wirklichkeit auf eine Bildtafel zu übertragen, erfindet der Künstler ein 2-dimensionales Scheinbild, das die menschlichen Augen in der Natur nie sehen. Er bedient sich dazu der geometrischen und der Luftperspektive. Die Erarbeitung dieser Methode setzt eine wissenschaftliche Fragestellung voraus. Nach der „symbolischen“ Kunst des Mittelalters, in der jeder Naturgegenstand „von Gott“, als Zeichen von Gottes Schöpfung galt, erarbeiten die Menschen der Renaissance im 15. Jahrhundert die Wissenschaft von der Natur. Die Italiener erfinden die Perspektive der Formen, die Niederländer die der Luft. Sie und ihre Nachfolger bedienen sich mechanischer Hilfsmittel wie des Projektionsschirmes und der Camera Obscura. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eignen sich die Künstler die Foto- und Filmkamera und den Diaprojektor an. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern versuchen sie aber, die mechanischen Hilfsmittel zu verleugnen, da die Fotografen selbst Bilder erzeugen, die mit denen der Maler wettstreiten. Erst der direkte Einsatz von Originalfotografien, Buch- und Zeitungsdrucken nach Fotografien, geklebt in gemalte Bilder, von den 20er Jahren bis zur Pop Art und die ausschließliche Verwendung von Fotografien zur Erstellung von Kunstobjekten – im Künstlerfilm seit den 20er Jahren, heute vor allem in allen Varianten der „Konzept-Kunst“ – machte das Foto kunstwürdig. So gibt es seit den 60er Jahren in New York, Kalifornien und Mitteleuropa Maler, die Fotografien so direkt in gemalte Bilder übersetzen, dass auch der unvoreingenommene Betrachter sofort die Fotovorlage wahrnimmt.
Die Bilder dieser Fotorealisten hat der Sammler Peter Ludwig zum ersten Mal für die Neue Galerie in Aachen gesammelt. Sie erregten in der documenta 5 in Kassel 1972 weltweit Aufsehen. Sie sprechen breite Bevölkerungskreise an, weil sie die Erwartung, Kunst komme von Können, bestätigen: die meisten sind virtuos gemalt, sie geben allbekannte Gegenstände unserer Erfahrungswelt in großer, schöner, geordneter Form wieder, sie verlangen nicht die „gehasste“ Ehrfurcht vor Kunst als Spielform einer intellektuellen Elite, sie lassen zu, dass der Betrachter sie vergisst und die Illusion, die er wahrnimmt, für die Wirklichkeit hält. Jean Olivier Hucleux hat, um die Illusion zu steigern, die Serie der Friedhofsbilder in einem dunklen Raum als „Fenster“ hell beleuchtet ausgestellt.
Da wir täglich von Fotografien und ihren Reproduktionen in Zeitungen, Illustrierten, Plakaten, im Kino und TV umgeben sind, halten wir sie für authentische, glaubwürdige Spiegelbilder der Wirklichkeit. Das leistet kein Kunstwerk, kein gemaltes Bild kann diese Glaubwürdigkeit fordern. Kann ein Künstler diese Überzeugung erschüttern? Kann ein Künstler eine Wirklichkeit malen, die wirklicher als wirklich ist? Vergleichen wir die Bilder der Fotorealisten mit ihren fotografischen Vorlagen, so sehen wir die Unterschiede: das Foto setzt sich aus Körnern oder Pixeln zusammen, das gemalte Bild aus Farbstoffen, die die menschliche Hand aufgetragen hat. Eine Vergrößerung der Fotovorlage auf die Größe des gemalten Bildes lässt unter Umständen Details unscharf erscheinen, die der Maler exakt wiedergegeben hat. Projiziert man Fotovorlage und Bild gleich groß nebeneinander, so ist die Projektion des Bildes schärfer, in den Farben leuchtender und wird in der Perspektive und Tiefenschärfe Unregelmäßigkeiten zeigen, weil der Maler die Flächigkeit der Vorlage, die aus einer 1-äugigen Kamera stammt, stereometrisch zu ergänzen versucht, und der Farbigkeit der Fotovorlage, die Ergebnis chemischer Prozesse ist, die der Öl- oder Acrylfarben entgegensetzt. Unsere Sehnerven, die der tägliche Umgang mit Bildern stumpf werden lässt, erhalten hier ein aufregendes Training. Gemalte Bilder können kein einfacher Abklatsch der Wirklichkeit sein.
Die Alltäglichkeit der Motive im Kunstkontext provoziert. Sie erscheinen auf Tafelbildern und werden in Galerien und Museen ausgestellt. Sie weisen über sich hinaus, widerspiegeln ein Zeit- und Lebensgefühl. Hucleux malt französische Friedhöfe in der Nähe seines Hauses an der Seine. Er hat dafür persönliche Gründe, aber wir fragen: Haben wir diese pompöse Friedhofsromantik nicht überwunden? Oder ist sie zeitlos wie die Angst vor dem Sterben, die Pflege der Erinnerung und die Furcht vor dem Vergessen?
Abb. Jean Olivier Hucleux Friedhof 6 1974 Öl/ Holz Paris Centre Pompidou