Beckeraachen

Kunstwechsel


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Ladenschilder

Kunst ABC   LA D E N S C H I L D E R

Akademische Künstler und Graffiti Writer sollten spätestens dann, wenn in Wahlen über die Qualität ihres Fortlebens entschieden wird, Ladenschilder und Schaufenster bemalen wie Mariko Saito in der Aachener Komphausbadstraße z.Z.. Leere Geschäftslokale bieten reichlich Gelegenheiten. James Rosenquist begann seine Karriere als „Billboard Painter“, Erro bat seinen Schwiegervater, einen malaischen Plakatmaler, zu helfen, einige seiner „Tableaux Chinois“ zu malen, in Indien habe ich Bildwerbungen über Kinos und Arztpraxen fotografiert.

In Europa ist EIN Ladenschild weltberühmt geworden, das des Pariser Kunsthändlers Gersaint, eines der letzten Bilder des Antoine Watteau, 160 x 300 cm groß, nach seinem Tod 1721 nach 14 Tagen von der Hausfassade abgehängt und in Sicherheit gebracht. Friedrich der Große hat es für sein Berliner Schloss erworben.

Der Hamburger Sammler Peus trug einige anonyme Tafeln in Afrika zusammen, so das Bild eines Frisörs, der eine Auswahl seiner Haarschnitte anbietet. In Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, nahmen Chéri Samba, Moké, Chéri Chérin and Pierre Bodo in den 70er Jahren an der Entwicklung des jungen Staates teil – als „Sign“ und „Billboard Painters“, Illustratoren für Magazine und Comic Editionen. Sie genossen den neuen politischen Diskurs, die Freude an Versammlungen und Demonstrationen, die Lust, ungestraft zu lachen.

Diente das Ladenschild des Kunsthändlers Watteau dazu, den gestorbenen französischen König zu verspotten, dessen Staatsporträt (von Hyacinthe Rigaud) in eine Kiste geschoben wird? Ist Ladenschildern ein Humor erlaubt, den Kunstwerke vermeiden? Zwingt die Öffentlichkeit des Ladenschildes den Künstler, zu den Menschen auf der Straße anders zu sprechen als zu denen im Museum? Darf er sich über sie lustig machen wie Cheri Samba, der den neureichen Karrieristen, seine Familie, seine Wohnung und seinen Mercedes aufs Korn nimmt?

Je mehr sich Museen bemühten, die Öffentlichkeit der Straße zu erreichen, umso mehr nahmen sie Kunstwerke auf, die sie zuvor verachteten: realistische Bilder des ordinären Alltags, Bilder schwarzer Künstler der Haarlemer Renaissance in New York. Cheri Samba lebt heute erfolgreich dort, und sein Bild zum Wassermangel auf der Erde hängt im Museum of Modern Art.

Antoine Watteau “L´enseigne Gersanit” 1721 Berlin, Schloss Charlottenburg

Schild eines Frisörs, anonym, Nigeria, Sammlung Peus, Hamburg

Chéri Samba “Une Vie non ratee“ (Ein nicht mißlungenes Leben) 1995 Sotheby 2016 und “Water Problem” 2004.MOMA New York Pigozzi Collection. Photo CAAC


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Fahrräder

Mein Mann schlägt mich tot, schimpft die Dame. Wir betrachten den Kratzer im Lack des SUV, den die Handbremse meines Rades verursacht hat, als ich beim Rot der Ampel neben ihr hielt. Später stürzte ich mit meinem Auto den Kinderwagen einer Schwangeren um. Jetzt versuche ich zu Fuß zu gehen. Aber die Straßen sind für Autos, Fahrräder, E-Roller, Segways, Skuddies, Buggies, Skateboards und Einkaufswagen so eng geworden, dass selbst Fußgängerzonen nicht ungefährlicher sind als Bergpfade, die Mountainbikes bevölkern.

In Peking sind die Straßen so breit, dass die Fahrradzonen 5-spurig sein konnten. Aber dort herrschen nun Autos. Fahrräder hat die chinesische Regierung für Länder bestimmt, in denen Autos nicht mehr repariert werden können wie in Kuba oder wo so viel Zeit vorhanden ist, dass alles zu Fuß erledigt werden kann: in Dörfern Afrikas.

Fahrräder müssen billig und robust sein und in so großen Mengen importiert werden, dass man sie sozialistisch für Gemeingut halten kann. Afrikaner bringen diese Vorstellung in unsere Städte mit. Sie lernen hier langsam, dass Fahrräder dem einen oder anderen gehören wie Hunde oder Katzen.

Chinesische Instruktoren, die den Import von Fahrrädern in Afrika begleiten, sind  angewiesen, den Dorfbewohnern die Vorteile des Fahrradfahrens, die „Ökonomie“  des „Ökomobils“ zu demonstrieren: sie trainieren mit dem Bürgermeister, der die Ladung auf dem Kopf trägt, wie alle es als Fußgänger kennen, wegen der gewonnenen Schnelligkeit hat er nun Ferngläser vor den Augen. Die Einwohner der Dörfer zweifeln am Erfolg der Maßnahme. Sie kennen noch nicht die Fahrräder unserer Postbriefträger, die den Transport größerer Lasten erlauben) Gangschaltungen und Lampen, kleine Benzinmotoren werden folgen, und eines Tages wird der Dorfrat mit dem Bürgermeister über die Breite von Fahrradwegen streiten, wie es bei uns üblich ist. Dann werden der Bürgermeister und der Rat auch Autos besitzen – und Fahrräder. Mein afrikanischer Freund schimpft: wieder ist ihm sein Fahrrad geklaut worden. Er lernt jetzt, E-Roller zu benutzen, die noch eingeschaltet sind.

Abb. Cheri Samba, Kongo, Les économistes à byciclette. 2003, 80 x 100 cm


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Schmieden bis in Afrika

Schmieden bis in Afrika

Der Bildhauer Wolfgang Nestler lehrte mich, geschmiedete Nägel zu lieben, und ich begegnete Menschen, die sie sammHammer Yohonoueln. Eine Schmiede: die Hitze des Feuers, der Amboss, das glühende Eisen unter den musikalischen Schlägen der Hämmer, der Blasebalg; keine Werkstatt ist urtümlicher, und kein Gott ist schmutziger als Hephaistos.

 

In Aachen unterhielt der umtriebige Manfred Bredohl ein Netzwerk von Schmieden in Europa, Amerika und Afrika, das aussichtslos gegen die reformierte Berufsbezeichnung Metallgestalter kämpfte. Er organisierte Schmiedekongresse, Ausstellungen und provozierte gern die Unschärfe zwischen freier und angewandter Kunst, Kunsthandwerk und Design, die die Autoren sehr viel stärker belastet als die Nutzer ihrer Produkte.

Heute, in der digitalen Ära, sind alle Verfahren, Bilder herzustellen (das Malen mit Ölfarben auf Tüchern oder festen Gründen, das Zeichnen und Tuschen auf Papier, das Radieren auf Blechplatten, das Stechen in Kupfer, Lithografieren auf Stein, Schneiden in Holz)  ebenso nostalgisch in die Vergangenheit gerutscht wie das Hauen aus Stein und Gießen in Bronze: und keine der Techniken erscheint so altertümlich wie das Schmieden, das die gestaltende Kraft des schöpferischen Menschen im Kampf mit den Elementen Erde, Luft, Wasser und Feuer zeigt – so alt, dass auch Bredohl auf dem alten afrikanischen Kontinent nach Schmieden suchte, die aus ferner Vergangenheit in die Gegenwart hinein arbeiten.

 

Bei einem Empfang in seiner „Vulkan“-Schmiede anlässlich des 3. Kongresses der Schmiede 1996 stellte er stolz nicht nur die „Artist Blacksmith Association of North America“ vor, sondern das Schmiede-Kreatop von Yohonou in Togo/Westafrika, Zentrum eines Dorfes, dessen Bewohner von der Arbeit an einer Eisenhütte gelebt und ihn eingeladen hatten, sie in sein Netzwerk aufzunehmen. Er besuchte sie und ließ sich auf ihre Pläne ein: eine Siedlung mit Pavillons für ein Museum, ein Gästehaus und Werkstätten – ein touristischer Hotspot in einem armen Land. Mittlerweile werben ein anderer Schmied, der Niedersachse Andreas Rimkus und seine „Kulturfeuerstiftung“ für Gäste und Sponsoren. Schrottverarbeitung, Eisenerzabbau und -verhüttung sind wichtige Faktoren in der wirtschaftlichen Entwicklungsarbeit der westafrikanischen Staaten. Rimkus ist es mit 19 einheimischen Schmieden in Yohonou gelungen, aus Buderus Edelstahl einen von sieben Stahlhämmern (für die Kontinente; der europäische steht im Park des Kröller-Müller-Museums in Otterloo), 19 t schwer, zu platzieren und einen Baum in das Loch seines Kopfes zu pflanzen, der als sein Stiel wachsen wird.

 

Dort, wo in afrikanischen Länder Dorfkulturen noch lebendig sind, werden Schmiede gebraucht. Rimkus hat einige von ihnen nach Deutschland geholt. In Montreuil vor Paris bietet ein Verband afrikanischer Edelschmiede seine Produkte an.

 

Am 3. Schmiedekongress nahm Wolfgang Nestler teil – in einer Ausstellung MASSIVFRAGIL über Eisen, die die Künstler einerseits und die „Metallgestalter“ andererseits unter den Titeln „Berührungen“ und „Aspekte eines Materials“ mühsam trennte: Nestler, Prager, Bandau, Serra hier, Bredohl, Hey, Suter, Paley dort. Wenige der ausgestellten Werke waren geschmiedet. So würden auch in einer Bilderausstellung heute mit Ölfarben bedeckte Leinwände rar sein. Solange keine neuen umfassenden Begriffe in den kulturellen Kodex einfließen, werden alle sich gern Künstler nennen und das, was sie machen, Kunst – auch die Schmiede.

 

 

 

 


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Yoruba – Englisch

palm-wine-drinkerYORUBA ENGLISCH – Zur Kolonialgeschichte Afrikas

Auf dem Marktplatz von Abeokuta verliebt sich die Tochter des Bürgermeisters in einen Unbekannten: “A beautiful „complete“ gentleman, dressed with the finest and most costly clothes, and the parts of his body were completed, if he had been an article or an animal for sale, he would be sold at least for 2.000 Pounds.” Sie folgt ihm in den Wald. “He began to return the hired parts of his body to the owners and he was paying them the rentage money.” Den linken Fuss, den rechten, den Bauch, die Rippen, Arme, den Nacken. Zuletzt hüpft er wie ein Laubfrosch. “When the lady saw every part of this complete gentleman in the market was spared or hired and he was returning them to the owners, then she began to try all her efforts to return to her father´s town.”

Dass sich ein Twen herausputzt und beduftet, um junge Frauen anzuziehen, die Zähne mit  weißen Blenden bedeckt, die Fingernägel lackiert, mag angehen. Aber der afrikanische Autor treibt die Satire in die Groteske. Er nimmt den Playboy als Schaufensterpuppe auseinander. Wenn ich nicht wüsste, dass Amos Tutuola als Kupferchmied bei der Royal Air Force und Lagerarbeiter beim Staatlichen Rundfunk in Lagos arbeitete, als er sein Buch „The Palm Wine Drinkard“ nicht in seiner Muttersprache Yoruba, sondern in unbeholfenem Pidgin-Englisch schrieb, 1951 in London (von Dylan Thomas rezensiert) und 1953 in New York publizierte, 1955 in Französisch, Italienisch, Deutsch, Serbokroatisch herausgab, so würde ich annehmen, ein Sammler der oralen Erzählkunst aller Völker, die vom indischen Panchatantra bis zum Buch der Beispiele der Alten Weisen des Antonius von Pforr (um 1450) bewahrt ist, hätte die wunderreichen Fabeln benutzt, um die Alkoholfantasien eines Wanderers im afrikanischen Busch so zu komponieren, dass die ersten Leser den Text für ein surrealistisches Unsinnswerk des französischen Pataphysikers  Raymond Queneau hielten („Zazie dans le métro!“). (Er hat es aber nur übersetzt.)

 

Tutuola kannte Daniel Orowole Olorunfẹmi Fagunwas „Ògbójú Ọdẹ nínú Igbó Irúnmọlẹ̀“ (Der Wald der 1.000 Dämonen), das 1938 in einem Wettbewerb des Erziehungsministeriums den 1. Preis erhalten hatte, das erste Buch in der Yorubasprache überhaupt, das Wole Soyinka 1968 ins Englische übersetzte und in London publizierte.

 

Die beiden nigerianischen Autoren stellen zwei Haltungen zur Kolonialmacht England dar: der Ältere den autonomen Stolz einer eigenen Kultur  (1938 Unabhängigkeitsbewegungen!), der Jüngere das spöttelnde, satirische Amalgam des Schatzes einer alten reichen Erzählkunst in die uneigene Sprache der abdankenden Herrscher übertragen, das magische Panorama einer Weltbeschreibung in surrealistische Pointen zugespitzt.(1954 erste Selbstverwaltungen in Nigeria!)

 

Der Ich-Erzähler, ausgestattet mit „Joujous“, Zaubern, die in Notfällen Leben retten („Father of gods who could do everything in this world“ nennt er sich überheblich) wandert 10 Jahre durch das Land, um seinen „Palm Wine tapster“ aus der Stadt der Toten zurückzuholen. Er kann nicht sterben, denn er hat TOD verkauft, er kann ihn aber fürchten, denn er hat nicht ANGST verkauft. Sein „Winzer“ kann nicht mit ihm zurückkehren; wie alle Toten, denen er begegnet, muss er rückwärtsgehen (nur die vielen toten Kinder nicht), aber er schenkt ihm ein Ei, das die Menschen aus der nächsten Hungersnot retten wird. Seiner Frau wird ein Kind aus dem rechten Daumen geboren, ein ewig Hungriger verschlingt die beiden, sie erschießen ihn aus seinem Bauch und schneiden sich heraus….Flüsse, Wälder und Büsche sind so bezeichnet, als säße der Leser in einem Theater – atemlos.

 

Den Titel des 2. Buches von Tutuola „My Life in the Bush of Ghosts“ nutzten die TALKING HEADS Brian Eno und David Byrnes 1981 für ein Projektalbum, in dem sie Zitate afrikanischer und arabischer Musik als „Samples“ verarbeiteten – eine erste Form der „World Music“. Ihr Ruhm hat den Tutuolas erweitert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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HEPP HEPP Judenpolka

27.Kalendergeschichte

HEPP HEPP   JUDENPOLKA

Zoff am Frankfurter Römer. Johann Michael Voltz nimmt das Spektakel vom Dom her auf. Zwei streitbare Frauen haben vor ihm einen Mann mit Forke und Besen niedergeschlagen, ein fein gekleideter Herr einen anderen gepackt, schwingt einen Knüppel, und eine Alte gießt Abwasser aus ihrem Fenster hinunter. Der schattenhafte Ordnungshüter in preußischer Uniform schwingt den Säbel und galoppiert auf seinem großen Pferd in die Menge auf dem Platz. Umgestürzte Marktstände verraten, dass die Angegriffenen Händler sind. Aber nur der Titel des Blattes bezeichnet sie als Juden – in einem Aufstand, der einer von vielen in der unruhigen Zeit nach dem Wiener Kongress war, in der Europa neu geordnet und Frankfurt die Hauptstadt des Deutschen Bundes wurde – und als das Papiergeld die Münzen ersetzte und die geschäftigen Juden als Scheidemünzen „ Frankfurter Judenpfennige“(„Theler“, „Halbac“) in großen Auflagen verbreiteten, die heute noch begehrte Sammelstücke sind.

Das schüchterne Blatt des Münchener Zeichners und Karikaturisten ist eines der wenigen Bilder der Hepp-Hepp-Krawalle von 1819, mit denen sich die feudale Standesgesellschaft, die Kirche und die Zünfte gegen die neuen Freiheiten wehrten, die die napoleonische Regierung,

das preußische Judenedikt von 1812 und der Wiener Kongress der jüdischen Bevölkerung einräumte.

Voltz erlebte am 10. August in Frankfurt Prügeleien zwischen christlichen und jüdischen Briefabholern am Postamt, Randale in der Judengasse, Hepp-Hepp-Demos und zögerliches Eingreifen der Polizei. (Ein rhythmisches HEPP HEPP diente in der Regel dem Treiben von Zug- und Herdentieren, Volkskundler erwähnen die Judenpolka im Odenwald, Geisteswissenschaftler erinnern an den Ruf des römischen Kaisers Hadrian und der Kreuzritter nach ihm „Hierosolyma est perdita“ (Jerusalem ist gefallen. Die Akklamation verschwimmt bis heute in hip hip hurra.) Die Grafik gibt wenig von dem Ausmaß der Verfolgungen, Verletzungen, Morden, Zerstörungen, Brandschatzungen in ganz Europa wieder. Die hilflose politische Haltung der Regierungen nährte die zerstörerische Wut der Bevölkerung.

Heinrich von Kleist hatte in seiner Novelle „Die Heilige Cäcilie und die Gewalt der Musik“ 1810 eine Gruppe holländischer Bilderstürmer beschrieben, die in einer Aachener Kirche an einer Randale durch die Musik einer Messe,  an der die Heilige Cäcilie wunderbar beteiligt war, so radikal gehindert wurden, dass sie fortan geistesverwirrt nichts weiter äußern konnten als das Gloria in excelsis der Messe – krächzend, brüllend….  In einer Würdigung der Novelle schreibt Hans-Jürgen Benedict, die Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion in jener Zeit,  die durch „gewalt(ät)ige Turba-Chöre (Volk, Hohepriester, Kriegsknechte, Diener) musikalisch gebannte Verurteilung der Juden als Mörder Jesu durch die Evangelisten“ habe „die Hörer in solche Aufregung versetzt, dass sie nach der Aufführung mit Hep Hep-Hetzrufen auf die Straße gingen“. Benedict nimmt in den aktuellen Antisemitismus-Untersuchungen Bach in die Pflicht.  2012 wurde im Berliner Dom eine „gereinigte“ Form der Johannes-Passion aufgeführt – mit Texten von Celan, Lasker-Schüler und Nietzsche. Im Rückblick auf die Bibeltexte erscheinen nun gar die Evangelisten als Antisemiten. Die lebendige, offene Kultur dieser Welt muss sich von Antisemitismus, Rassisimus, Faschismus, Frauenfeindlichkeit und Kriegslust befreien, um den Globus zu erhalten – von der Wut jener Bürger von 1819, die sich mühten, den Fortgang der Geschichte aufzuhalten. Es gibt sie noch heute.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kulturgeschichte / Religionsgeschichte / Juden / 19. Jh.


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Berlin 1. Mai 1961

  1. Kalendergeschichte

Der 1. Mai 1961 in Ostberlin

Im Kölner Kunstgewerbemuseum in der Eigelsteintorburg hat mir, einem einsamen Besucher, 196o sein Direktor Erich Köllmann in die Augen geschaut und empfohlen, Möhren zu essen. Der Würdenträger und der Student der Kunstgeschichte im 1. Semester wurden Freunde. In seiner Wohnung durfte ich die Sammlung kostbarer Porzellane fotografieren. Er erregte sich sehr, als seine Putzfrau eine der Figurinen beschädigte.  Sie stellte mir ihren Sohn vor, er zeigte mir seine Gemälde – im Stil Dalis. Meine ersten Schritte in das Forschungsfeld der Kunstgeschichte nach der Ära der Düfte bei 4711 – kleine Abenteuer.

Im Märkischen Museum in Ostberlin hatte Erich Köllmann Material für sein Buch über die Geschichte des Berliner Porzellans gefunden. Er kannte dort einen Bestand von historischen Aktfotos, die Porzellanmodellierern als Anregungen für ihre Figuren gedient hatten. Diesen Bestand sollte ich mit meiner kleinen 4×4 Rollei fotografieren.

In den letzten Apriltagen 1961 fuhr ich täglich durch die Grenzkontrolle Friedrichstrasse zu dem imposanten Gebäude des Märkischen Museums im Köllnischen Park und wurde belustigt vom Personal empfangen: der Junge aus dem Westen, der sich für die Nacktfotos im Keller interessiert. Es waren Hunderte. Ich nahm mir vor, eine Auswahl aus den vergangenen Jahrzehnten zu dokumentieren.

Damals kannte ich niemand in Berlin. Und im Westberliner Hotel zogen alle vor, den Osten zu meiden,  ein Gelände, das  von Menschen einer anderen Art bewohnt wurde und allzu deutlich die Nachwehen des Krieges zeigte: Ruinenfelder, schnell hochgezogene Wohnbauten, ärmlich ausgestattete Eckkneipen, Polizeipatrouillen. Im Museum half mir Frau Zix. Sie wohnte im Westen und lud mich zu einem Sonntagsessen in ihr Haus in Staaken ein. Sie ahnte nicht, dass in vier Monaten eine hohe Betonmauer ihr Haus von ihrem Arbeitsplatz trennen würde.  Wir wanderten zur Zitadelle von Spandau, und sie verspottete alle, die hier und nicht im Kriegsverbrechergefängnis nebenan Hess und Speer vermuteten.

Ruhe und Frieden schienen im Arbeiter- und Bauernstaat am 1. Mai zu herrschen. Ich war so unpolitisch, dass mich die Tribüne der Würdenträger nicht interessierte. Ich kannte sie nicht einmal beim Namen. Nur Breschnew sah mich von einem der großen Plakate an. Aber der Mann mit der Spitzhacke, der sich den Ärmel hochkrempelt, paßte in die Stadtlandschaft so wie der mit der phrygischen Mütze, der die Zunge herausstreckt, Rest eines Fassadendekors. Das monumentale Plakat zur Wiederaufrüstung gibt mir heute Rätsel auf: die Volksarmee und die Bundeswehr waren nach heftigen Auseinandersetzungen 1955 entstanden ebenso wie die beiden Staaten in den zwei Machtblöcken des kalten Krieges. Und machte dieses Bild Sinn im Osten und am 1. Mai? Ich fotografierte es ebenso unschuldig wie den sozialistischen Vers über dem Hauseingang.

Als ich die Ergebnisse meiner Arbeit in der Wohnung Köllmanns abliefern wollte, herrschte dort helle Aufregung: ein Einbruch, ein Überfall, eine Verletzung. Mir wurde geraten, den Kontakt zu meiden.