Beckeraachen

Kunstwechsel


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Faith Ringgold

Epochen und ihre Werte: FAITH RINGGOLD

Ich wußte nichts über diese New Yorker Künstlerin, bis ich las, dass im neu erweiterten MoMA, einem Gedanken der ‘transversality’ folgend, ihr großes Bild „DIE“ (Stirb) neben Picasso’s „Demoiselles d’Avignon“ hängt – einem Werk, das wie kein anderes das 20. Jahrhundert eingeläutet hat, die Zertrümmerung des akademischen Tafelbildes und seiner Regeln – ein Bild, das am Beginn eines Lebenswerkes steht, das alle anderen überstrahlt.

Faith Ringgold, 1930 geboren, Kind der Harlem Renaissance, studierte Kunst in New York, reiste in Europa und bewunderte „Guernica“, das als Leihgabe 1939-81 im MoMA hing. Ihr Bild „DIE“ von 1969, das 20. und letzte der Serie „American People“ ist nur etwas kleiner. Es widerspiegelt die Rassenunruhen, in denen 1968 Martin Luther King erschossen wurde. Faith Ringgold wuchs in die Rolle einer Aktivistin und kämpfte an der Seite von Lucy Lippard für die Rechte der Frauen und der Afro-Amerikaner.

Um 1970 öffnete sich das, was wir Hippie-Kultur nennen, den Kunst- und Musikformen des Orients, der Araber und Afrikaner, der Tibeter und der einheimischen Indianer, den Schriften, Masken, Puppen, Kostümen, Thangkas und Quilts. Was wir später Pattern Painting nannten, entstand hier, und die Aufstände gegen die klassischen Künste gingen nicht selten – wie bei Thomas Lanigan Schmidt – Hand in Hand mit sozialen, bürgerrechtlichen Revolutionen: für die Homosexuellen, die Schwarzen, die Frauen. Faith Ringgold rief ihre Mutter, eine Kostümschneiderin, zu Hilfe, um Acrylbilder und Quilts mit üppigen dekorativen Stoffkanten zu versehen und perlenbesetzte Basthauben zu entwerfen. Nähen, Weben, Textildesign ergänzten das Malen. Quilts waren jetzt mehr als wärmende Steppdecken. Sie wurden Chroniken der Erinnerungen.  Seit 1970 stellt Faith Ringgold in Amerika und England aus. Sie ist als Künstlerin, Feministin und Bürgerrechtlerin berühmt.

Diese Kunst, die aus einer Fülle der Weltkulturen, aus Bereichen schöpft, die Europäer lange völkerkundlich betrachtet haben, schafft Werte, die sich in den „Demoiselles d´Avignon“ erst bescheiden ankündigen, in „Barbarismen“, die die Zeitgenossen erschauern ließen. Das MoMA hat Faith Ringgold aber Unrecht getan, sie mit einem Bild vorzustellen, das allzu bemüht die Nähe zu „Guernica“ sucht. Ihre berühmten Quilts hätten ihr hier mehr Ehre gegeben.

Abb. „Die“ 1969 183 x 366 cm MoMA NY

Abb. Sleeping: Lover’s Quilt #2, 1986, 197 x 200.7 cm

 

 

 


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Hyperrealismus

HYPERREALISMUS IN LA BOVERIE

Die Hallen des reformierten Kunstpalastes La Boverie in Lüttich sind zu groß für diese umfangreiche Ausstellung realistischer Skulpturen zeitgenössischer amerikanischer und europäischer Bildhauer, die allesamt darauf zielen, den Betrachter zu verwirren. Atmet diese Schöne, die sich auf ihrem Podest ausbreitet, als wäre es der Strand von Kalifornien? Kann ich mit den New Yorker Bauarbeitern von Duane Hanson reden?

Als Nancy Graves mit den lebensechten Kamelen 1969 die New Yorker und 1970 die Aachener irritierte, konkurrierte sie mit Tierpräparatoren so wie manche ihrer Kollegen mit Madame Tussaud. Und damals begann die Entwicklung digitaler Bilder, der Wettlauf der Pixel auf Bildschirmen, und die ersten Hologramme überraschten uns in dunklen Wunderkammern. Jetzt, wo die Bildschirme in Quadratmetern gemessen werden und 3D-Drucker Skulpturen herstellen,  kann eine Ausstellung zeigen, wie man Hyperrealismus benutzt, um eine Geschichte zu erzählen oder eine Karikatur zu schaffen: eine junge Frau, die sich verrenkt, um mit ihrem Smartphone am Stativ ihre Vagina zu fotografieren, oder, um meine Rührung  zu verhundertfachen, ein 3x1m großer Neugeborener, der beginnt zu blinzeln (von Ron Mueck). In einem der Räume darf ich nicht fotografieren, weil eine nackte Frau in drei Varianten ihre Beine ausbreitet, im Nebenraum liegt eine andere auf einem Bett, fotografiert sich, sicher, durch ein Schnellfeuergewehr an ihrer Seite beschützt zu sein. Einem Mann ist der Kopf abgeschnitten, und ich blicke auf die Stummel der Muskeln, Nerven und Arterien. Halt: diese beiden Skulpturen von Berlinde de Bruyckere sind Skulpturen so wie Michelangelo und seine Nachfolger sie verstanden, und auch die beiden Gipse von George Segal sind durchaus „unfotografisch“, und der Hitlergruß von Maurizio Cattelan mit dem Titel „Ave Maria“ meint etwas anderes. Die kleinen optischen Sensationen überwuchern das Thema. Schulkinder rubbeln vergebens am Glaskasten eines nackten Mannes, anders als angegeben wird er nicht sichtbar, sondern bleibt ein milchiges Gespenst. Vor  Jahren  erschienen uns John de Andrea und Duane Hanson ebenso als große Virtuosen der illusionistischen Oberflächen wie die Maler Chuck Close oder Richard Estes, diese auf Leinwänden, jene auf Polyesterabgüssen von lebenden Modellen, jetzt, im Zeitalter der Pixel-Millionen, sind ihre Figuren Kuriositäten, die sich unseren Smartphones zu nostalgischen Betrachtungen anbieten. Unbedingt sehenswert. Ein großer Spaß!

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„Botanische“ Kunst

„Botanische“ Kunst – Jan Hendrix im Bonnefantenmuseum Maastricht

Noch heute entdecke ich zwischen alten Liebesbriefen getrocknete Blumen und blättere bewundernd durch Bücher, die Kupferstiche von exotischen Pflanzen und Insekten zeigen. Maria Sibylla Merian und ihre zweijährige Reise nach Surinam 1700 sind für mich eines der großen Abenteuer der Kunst- und Naturgeschichte. Der 70-jährige Holländer Jan Hendrix, der seit 1978 in Mexiko lebt und arbeitet, hat dieser Kunst- und Naturgeschichte ein gegenwärtiges Echo geschaffen, das im Obergeschoss des Museums vielfältig schallt. Die Dokumentation von Pflanzen und Tieren in exotischen Ländern, die die Europäer bereisten, kolonisierten, beraubten, haben Fotografen übernommen, im Echo klingt diese Geschichte an, es scheint nicht mehr wichtig, welche Blätter in jenen Gebüschen wachsen, die ihnen auf den Doppelseiten großer Folianten gegenübergestellt sind – in Lithografien und Siebdrucken auf Papier und Goldfolien, signiert, nummeriert, bibliophile Schätze, in denen der Reichtum von Wäldern ausgestreut ist. An eine große Wand sind Hunderte von postkartengroßen Blättern mit Nadeln gepinnt, die die andauernde Arbeit des Grafikers vorführen – und dann öffnet sich ein dunkler Raum für 3 riesige Tapisserien aus Seide, Wolle und Chenille, die den Betrachter sanft in ein wucherndes Gestrüpp einrollen.

Ich hätte ihn im Umkreis von Shinkishi Tajiri, der Smeets Presse in Weert , des Agora Studios und der Jan van Eyck Akademie kennenlernen können, aber seit 1978 lebte er vor allem in Mexiko – und hat in diesem Jahr den höchsten Orden des Landes für seine Arbeiten erhalten. Große Arbeiten hängen in öffentlichen Gebäuden und folgen ihrem Zweck, an eine intakte, wuchernde Natur zu erinnern, die die Kolonisatoren zerstört haben und deren Reste es zu erhalten gilt. Die dekorativen Werte der Arbeiten treten in der Ausstellung in den Dienst einer Erinnerung – wie es war, als man nicht um den Erhalt der Ur- und Regenwälder bangen musste.

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A bumped body

A BUMPED BODY

Ein gestoßener, verbeulter Körper – eine sitzende Frau, durchdrungen von einem phallischen Hundeknochen – ein Männchen, von Beulen übersät – diese irritierende Ausstellung der Düsseldorfer Künstlerin Paloma Varga-Weisz im Maastrichter Bonnefantenmuseum ist quälerisch weiblich mütterlich – Oberammergauer Holzschnitzkunst (leere, glatte Gesichter) und theatralische Inszenierungen (eine Liegende im weißen Totenhemd unter einem Glastisch voller Destilliergläser). Es muss der Künstlerin Spaß gemacht haben, die vielen kleinen Keramikgruppen von Mensch-Tiergruppen mit großen Ohren zu kneten „Wilde Leute“ 1998 – sie wirken asiatisch wie japanische Netsukes. Aber sie scheut nicht lebensgroße Figuren, deren Köpfe, Hände und Füße aus Tüchern hervorragen. In der Inszenierung des „Galgenfeldes“ folgt sie der Anregung eines Blattes von Rembrandt und zeigt 2 Frauen, an Pfähle gebunden und eine 3.  auf einem hohen Podest thronend. Die „Waldfrau“ nebenan sitzt mit ihrem beulenbedeckten kleinen Kind auf einem Stapel trocknender Baumbretter, ebenso still, in sich gekehrt, priesterlich im schwarzen Tuch wie ihre Schwester auf dem hohen Brett. Sie folgt einem Bild Otto Modersohns von 1901, und man muss wissen, dass seine junge Frau im Kindbett starb – die Malerin Paula Modersohn-Becker. In einem dunklen Raum steht ein verschlossener Holzschuppen, nur Gucklöcher erlauben, an den Wänden Jagdtrophäen und ausgestopfte Tier zu erkennen und mittendrin 2 lebensgroße Holzfiguren an Schnüren: ein Frau, die ihre Beine öffnet und schließt, und ein Mann, der seine phallische Nase hebt und senkt. Die ausgestopften Paviane, die sie begleiten, stehen ebenso für Geilheit wie die Nase oder jener „Hundeknochen“ – und die „Beulen“, die uns in der Ausstellung wie eine Krankheit begleiten, verraten eine angsterfüllte Melancholie, die den Betrachter lange nicht verlässt.

Paloma Varga Weisz, Bumped Body, Maastricht Bonnefantenmuseum bis zum 02.02.2020

 

 


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Der Große Monarch

Kalendergeschichten – news – fake news

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Deer „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

Die 9. Kalendergeschichte   Zum großen Monarchen

Aachen_Großer_Monarch_1906Eigentlich wollten Winfried und seine Freunde im Oktober 1920 im Restaurant Carlton des Hotels zum Großen Monarchen über die Monarchisten herziehen. Das hatte er freilich seinem Vater, dem Geschäftsführers des Hotels, nicht gesagt. Der war kein Monarchist, residierte aber gern, wenngleich er seit 2 Jahren seine Steuern einer Republik zahlte, in einem Hotel, das mit der Heißen Quelle, die er in den Baderäumen nutzte, einem Monarchen gewidmet war.  Sein großes dreistöckiges Haus mit einem beherrschenden Giebel am Büchel war eines der feinsten am Platz.

Das Wort Monarch erhält sich die Sphäre des himmlischen Mandats, die eine unfassbare Macht enthält. Waren Hotel und Quelle nach den 3 Monarchen des Aachener Friedenskongresses 1818 genannt, nach den legendären Kaisern Heinrich II. und Friedrich Barbarossa oder der Chimäre einer Vision, die sich mit einer Marienerscheinung 1846 im Kloster von La Salette zu entwickeln begann und etliche Blütezeiten erlebte?  Ihr Großer Monarch, der Erlöser und Friedensbringer der Zukunft, ist er ein Franzose oder ein Deutscher? Ein Katholik? Ist er unbesiegbar? Wird er die Finsternis und Hungersnot beseitigen? Wird er die Weltrevolution führen? Wird er aus Russland kommen und im Namen des alten rechten Glaubens die Protestanten Europas vernichten? Wird er nach Jahren des Blutvergießens Eintracht und Wohlstand herbeiführen?

Die monarchistischen Politiker hatten nach der Gründung der Weimarer Republik im November 1918 100-Tages-Programme einer Reichsregierung bekanntgemacht, die die Wiedererschaffung des Sacrum Imperium, die Einsetzung eines Königs, des Primas Germaniae und der Reichskirche, die Wiederschaffung des Lehnsrechtes und des Untertanenstatus vorsieht. Winfried war erstaunt, 86 Jahre später das Programm aktualisiert bei Wikipedia wiederzufinden. Darin ist sogar der Abriss der Autobahnen vorgesehen.

Einige Graffiti-Maler um Hook gaben 2011 an der Hauswand vor dem Kanaldeckel, der die Quelle des großen Monarchen zudeckt, ihm, dem Monarchen das Gesicht des Verbrecherlords Jabba auf Tatooine aus der Starwars Saga. Der Gottgesandte lebt als Dämon fort.

Als Winfrieds Vater entdeckte, dass die 5 Studenten nicht ein fröhliches Fest inszenieren – etwa „Ein Maskenfest auf Capri“ – , sondern sein eigenes königliches Nest beschmutzen würden, klebte er das Anna-Blume-Gedicht von Kurt Schwitters an ihre Tür „Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir.“ und den kämpferischen Spruch „„Der Sozialismus verhält sich zum Bolschewismus wie die Grippe zur Lungenentzündung: Jene macht einen krank, an dieser stirbt man“. So war die Richtung vorgegeben, nicht nach rechts, sondern nach links sollte die Satire zielen, nicht zum düsteren Sinn, sondern zum heiteren Unsinn.  So vertraten Winfried und seine Freunde, deren Namen nicht überliefert sind, den RHEINDADA, und das „Echo der Gegenwart“ berichtete über sie am 22. Oktober. Winfried war als Anna Blume maskiert, „unseres Wissens eine Art künstlerisches Idol der Bewegung“. “ein Jüngling im Hosenrock, tanzte nicht schlechter als manche weibliche Tanzblume“ Der Kritiker berichtete, dass die „politischen, literarischen und gesellschaftlichen Knallerbsen“ „mit Singen, Pfeifen, Johlen, Miauen, Bellen“ quittiert wurden, und schließt mit dem Satz „Wir haben ernstere Dinge zu tun, als dass wir uns in übermütiger Zeitvergeudung mit den tollen Launen sorgloser Literaten befassen könnten.“ Das versteht jeder, der sich die düsteren Jahre nach dem 1. Weltkrieg vorstellen mag. 5 Reichsmark Eintrittsgeld waren so viel wie 5 Pfennige 1914.

Über das tumultuarische fluxus-Festival am 20. Juli 1964 in der Aula der RWTH sind wir ausführlicher informiert, so dass wir die Aggressivität der Ansprachen und ihre politisch-philosophischen Inhalte bewerten können. Im Oktober 1920 hat uns bereits der Ort der Veranstaltung, von dem eine Postkarte bekannt ist, und der vornehme, belastete Name misstrauisch gemacht. Aber schließlich fand die erste Stunde von DADA in Zürich auch in einem Café statt. Freilich trug es nicht den Namen eines Monarchen, sondern eines Philosophen der Aufklärung: Voltaire.

Abb. Hotel Zum Großen Monarchen 1906

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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Überschwemmung

Kcho Boat people 1994Die 8. Kalendergeschichte – ÜBERSCHWEMMUNG

Der junge Amerikaner aus Arlington, der, ohne Geld zu nutzen, durch Europa wandert, hat sich auf dem Lousberg in dem verlassenen Forsthaus gegenüber dem Couven-Pavillon eingerichtet. Die alte Frau Houben bringt ihm regelmäßig Brot und Gemüse und plaudert gern über die Kriegsjahre. Damals, 1944, hat sie sich im Keller ihres Hauses in der Kupferstraße versteckt und mit Kartoffeln ernährt. Der Keller war nass, der Regen drang vom Abhang hinein. Jetzt steht er unter Wasser. Die unteren drei Etagen ihres Hauses sind überschwemmt. Sie hatte ihre holländischen Freunde ausgelacht, die aus Angst vor der großen Flut am Atlantik hoch gelegene Häuser in Limburg, in der Eifel und im Bergischen Land kaufen. Auch sie nutzen jetzt ihre Motorboote, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Sie haben Stricke mitgebracht und ihr eine Leiter geknüpft, auf der sie vom 4. Stock ihres Hauses zu dem Rokoko-Gitter des Couven-Pavillons klettern kann. Von dort bis zum Belvedere auf dem Berg betritt sie festes Land und schaut über eine Seenlandschaft, die sich viele nicht hier, sondern nebenan gewünscht haben, dort, wo die tiefen Gruben des Kohleabbaus langsam mit Rheinwasser gefüllt würden und Segelregatten, Tauchmanöver, Anglerwettbewerbe zulassen würden.

Bei klarem Wetter würde sie bis zum Hohen Venn schauen und in dem Aachener Becken recht genau die 15 kleinen Rauchsäulen der heißen Quellen lokalisieren,  die sich durch das kalte Wasser empordrücken.

Als allein die Kupferstraße die Fahrt zur Spitze des Lousbergs erlaubte, gab es einen Bildhauer in Aachen, der meterlange Haifische aus Drahtgeflechten herstellte. Kunstbegeisterte Einwohner schlugen ihm vor, etliche wie Girlanden über die Straße zu spannen, so dass Autofahrer das Augenblickserlebnis einer submarinen Durchquerung hätten. Jetzt warten sie auf dem Dach ihres Hauses auf die Ankunft der Fische selbst.

Es regnet heftig seit vielen Tagen, und es ist warm geworden. Sie erinnert sich an das laute Trommeln der Tropfen auf dem Blätterdach des Krals in Kribi in Kamerun. Starke Monsungüsse wie aus Eimern in mehreren Nachtsunden und mächtiger Dunst über dem Meer, wenn die Sonne aufstieg. Das war ein Neckermann-Urlaub vor langer Zeit.

Der Amerikaner sichert das Dach und seine Abflussrinnen und versucht, den Ratten, Mäusen, Eichhörnchen und Füchsen den Zugang zu erschweren. Gegen Spinnen, Wespen, Mücken, Fliegen, Mistkäfer, Flöhe, Wanzen, Schimmelpilze und zahllose, dem menschlichen Auge nicht sichtbare Flüchtlinge ist er machtlos. Nie ist ihm die Welt so dicht bevölkert erschienen.

Er hat Fragmente von Krebsen, Schnecken. Korallen und Muscheln aus dem Boden gekratzt, die 80 Millionen Jahre lang hier ein großes fischreiches Meer bevölkerten – 80 Millionen gegen die Zeitrechnung unserer Zivilisation von 5000!

Er zeigt der alten Frau im Obergeschoss des Couven-Pavillons eine Wohnung, die sich ein Professor der RWTH nützlich eingerichtet hat; er könnte nachfragen, ob sie das Hausrecht übernehmen dürfte. Eigentlich erscheinen solche Ansprüche jetzt veraltet, und es wird wichtiger zu überlegen, wie vielen Flutflüchtlingen Gastrecht gewährt werden kann. Der angenehme Egoismus des Wohlstandes weicht einer selbstverständlichen Einsicht des Miteinanders.

Taucher haben im Aachener Becken Funkmasten und Stromleitungen vom Boden gelöst und auf Pontons eingerichtet, um den Kontakt der Smartphones und die Energiezufuhr der Server zu erhalten. Satelliten kreisen nahe. Im Forsthaus funktionieren Radio, TV und Wlan einwandfrei. FRIDAYS FOR FUTURE hat eine große Demonstration angekündigt. 10.000 Boote werden am Freitag über dem Kölner Hauptbahnhof ankern.

 


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Aachen – die leere Stadt

Bastei LindnerKalendergeschichten – news – fake news

 

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Deer „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

  1. Kalendergeschichte A A C H E N –   D I E   L E E R E   S T A D T

 

Ist die Stadt Aachen durch die Explosion einer Wasserstoffbombe entvölkert worden oder hat der Taxifahrer aus Maastricht diese obdachlose Frau in eine Parallelwelt gefahren, die darauf wartet, bevölkert zu werden?   Die Frau ist obdachlos und sucht in vereinsamten Häusern nach einer Wohnung, in der sie sich wohlfühlen kann. Das Taxi hat sie am Muffeter Weg abgesetzt, der Fahrer wusste, dass dort Aktivisten vor einiger Zeit ein großes leeres Haus besetzt haben. Es ist jetzt zugemauert, aber sie findet den Zugang zu komfortablen Wohnräumen, einer Küche, einem Bad, und sie schaut auf einem großen, dicht bewachsenen fruchtbaren Garten. Sie nimmt an, dass sie hier andere Häuser finden kann, in denen Strom- und Wasserzufuhr vorhanden sind, und stößt auf das Terrassengästehaus der RWTH in der Maastrichter Straße: dort kann sie unter 36 leeren Wohnungen wählen.  Soll sie bleiben? Ist das Angebot im Zentrum nicht größer als hier im RWTH-Gelände?

An der Ludwigsallee gelingt es ihr, in die Bastei einzudringen. Die Fülle der Fenster in dem imposanten Eckbau hat sie fasziniert. Sie stellt sich Festsäle, Bühnen- und Garderobenräume, Chambres Séparées, Wohnungen, Dachterrassen vor und springt über Pfützen durch nasse, schmutzige Gänge, am Möbeltrümmern vorbei, bis sie oben tatsächlich einige verlassene Biwaks entdeckt, in denen jugendliche Hausbesetzer ohne Not gehaust haben. Platz für viele Wohnungen in bevorzugter Lage im Kurviertel! Ein Einkaufskiosk um die Ecke!

Sie läuft hinunter zur Grosskölnstrasse an einem großen leerstehenden Geschäftshaus mit Wohnungen im Obergeschoss vorbei, an geschlossenen Geschäften in der Mefferdatisstrasse, am Dahmengraben, in der Adalbertstraße. In das verrammelte Erdgeschoß des Alten Kurhauses wird sie nicht einziehen: zu viel Betrieb bei den Veranstaltungen oben. Die meisten der 90 Läden, in die sie hineinschaut, sind offenbar noch nicht lange leer. Sie könnte dort wohnen und die Schaufenster verkleben.

An der Stiftstraße hinter dem Kugelbrunnen findet sie eine halb geöffnete Tür und tritt in eine Folge von Räumen, die bis zur Adalbertstraße reicht, leere weitläufige Ladenlokale von einem Ende der Straße zum anderen. Sie sind seit langer Zeit verlassen, vermüllt, verwildert und verschimmelt. Über ihnen müssen Wohnungen in allen Stockwerken sein. Wem gehören diese Häuser? Wer kann sich leisten, sie so lange tot liegen zu lassen? Ist es erlaubt, so zu handeln? Ist es denkbar, dass in einer leeren Stadt niemand etwas erlaubt oder verbietet? Unter den Wohnungen könnte ihr die eine oder andere gefallen. In den Schränken hängen noch alte Kleider. Arme Leute haben hier gewohnt. Wer hat sie vertrieben? Sind die Häuser einsturzgefährdet? Keine Abrissbirnen weit und breit.

In einem Hotel der Stiftstraße bewohnt ein Student eines der Zimmer. Als der Betrieb eingestellt wurde, hat er aufgehört, die Monatsmiete von 500 € zu bezahlen. Er hat noch Strom und Wasser. Die Frau bleibt über Nacht bei ihm. Am Morgen bringt er sie in das Camp Hitfeld am Augustinerwald, eine 22 ha große ehemalige Kasernensiedlung des belgischen Militärs, in der die Menschen kampieren, die in Aachen keine Wohnungen finden – 3.400 Familien etwa. Ein großer Teil von ihnen lebt schon lange hilfsbedürftig hier mit der Hoffnung, in Neubauten billige Mietwohnungen zu erhalten. Die Frau schüttelt den Kopf, als sie erfährt, dass die Eigentümer des Geländes dieselben sind, denen die Häuser der Stiftstraße gehören. Warum dulden sie einen Schandfleck im Inneren einer Stadt, die auf ihre Geschichte und ihr Erscheinungsbild stolz ist, und planen an ihrem Rand aus der Not geborene Wohneinheiten? Wollen etwa alle diese Leute ins Grüne ziehen?

Während sich die 10.000 Menschen im Camp Hitfeld am Vormittag vor den Agenturen und Geschäften dort drängeln, bringt der Student die Frau in die leere Stadt zurück. Sie zieht in das verlassene Hotel.  Warum wohnt er dolrt?  Wo sind seine Kommilitonen, die der Innenstadt ihren malerischen, internationalen Reiz geben sollen? In dieser Parallelwelt sind als „ Sommergäste“ ausgeschlossen. (Die Eltern der Frau ziehen im Sommer in Domburg an der holländischen Küste in den Dachboden ihres Hauses und überlassen ihre Wohnräume den Sommergästen aus Deutschland – für 3 Monate im Jahr!) Die Kultur der Stadt schaffen die Einheimischen, die lange dort verweilen, die mitreden und wählen – von denen viele jetzt im Camp Hitfeld leben – ohne sie ist die Stadt eine leere Stadt.

Die große RWTH ist eine gute große Universität. Sie zieht viele Studenten aus dem In- und Ausland an. Ehe sie beginnt, ihnen Residenzen zu schaffen, überlässt sie sie der kleinen Stadt. Die hat ihnen keine leeren Wohnungen besorgt, sondern Hausbesitzer angeregt, Platz in Wohnungen zu schaffen, die geringe Mieten kosten. Für wohlhabende Studenten werden Neubauten geplant Die Studenten verdrängen Einwohner. Ihre neuen Häuser verdrängen sozialen Wohnungsbau. Würde die Stadt sie der RWTH zurückgeben, so hätten alle Einheimischen Platz. Jetzt findet man sie im Camp Hitfeld.

Der Student hat wohlhabende Eltern. Sie haben ihm das Hotelzimmer bezahlt. Weil er unter der Einsamkeit in der leeren Stadt leidet, nutzt er jetzt die Einnahme, um im Camp Hitfeld Patenschaften und Selbsthilfegruppen für Wohnungen in der Stiftstraße zu organisieren. Er ist Ingenieur. Die Wasser- und Elektrizitätswerke gestatten ihm, die Anschlüsse zu reaktivieren.

Die Frau hat am Bahnhof Rothe Erde das große leerstehende Kaufhaus der Aachen-Arkaden entdeckt und geöffnet. Es ist noch beheizt, und mittlerweile streifen Kindergruppen mit ihren Betreuern aus dem Camp durch die Hallen und bauen heimelige Ecken. Künstler habe sich Ateliers eingerichtet. Theater- und Musikgruppen proben.

Eine Frau, die in der Wohnungsvermittlung der RWTH gearbeitet hat, zeigt den beiden die Angebote von Hausbesitzern im Ostviertel der Stadt, die sich an WGs kapitalkräftiger Studenten richten, und rät ihnen, sie in den Papierkorb zu werfen. Die Universität soll eben nur so viele aufnehmen, wie sie unterbringen kann – und Residenzen, Containersiedlungen in ihrem Campus bauen.

Die Mitarbeiter der Agenturen, Ämter und Geschäfte im Camp Hitfeld klagen: sie verlieren ihre Kunden. Es versteht sich, dass der große Umzug aus dem Augustiner Wald in die Innenstadt begonnen hat. Da dort erlaubt und nicht verboten ist, Wohnraum ungenutzt verkommen zu lassen, muss auch erlaubt und nicht verboten sein, ihn zu nutzen. Diese Parallelwelt organisiert sich selbst und schafft ihre eigenen Verbote und Genehmigungen. Agenturen, Ämter und Geschäfte, die im Vertrauen zu ihren Kunden leben, ziehen ihnen nach. In die Aachen Arkaden ist lautes Leben eingekehrt. Es gibt Tauschbörsen. Alle meiden Banken und Sparkassen, um sich nicht zu verschulden. Sie nutzen Bitcoins in Blockchains. Im Ballsaal des Alten Kurhauses hat das erste große Fest stattgefunden. Man hat dem 1.000.084. Geburtstag der Kunst gefeiert.

Abb. Lilith Lindner hat sich darauf spezialisiert, markante Fassaden wie die der Bastei aus Wellpappe zu schneiden. http://www.lilithlindner.de