Beckeraachen

Kunstwechsel


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Boltanski

Zum Tod von Christian Boltanski

In den siebziger Jahren bewegten vier Künstlerpaare die Kunstszene zwischen Aachen, Paris, Kassel und Amsterdam: Marina Abramovic und Ulay, Anne und Patrick Poirier, Barbara und Michael Leisgen, Annette Messager und Christian Boltanski. Sie suchten die Nähe zu den Wissenschaften, zur Psychologie, Archäologie, Anthropologie. Sie malten keine Bilder. Die Performances von Marina und Ulay handelten von den Konflikten ihrer Unzertrennlichkeit,  Michael fotografierte Barbara als Simulacrum zur Natur, Anne und Patrick schufen ihre Antikenvisionen gemeinsam. Nur Annette und Christian entwickelten ihre Fantasien weit voneinander entfernt.

Peter Ludwig erwarb einen alten Archivschrank mit fünf metallenen Schubladen, den Boltanski 1972 in der documenta 5 gezeigt hatte, und wir präsentierten ihn in der Neuen Galerie mit Erklärungen des Künstlers: Die Schubladen enthielten einen Pfeil, ein Paar Hausschuhe, eine Schere,  einen Zirkel, eine Jacke, alle zierlich aus Wachs modelliert, Gegenständen seiner Kindheit 1949 nachgebildet. an die er sich erinnerte. Die Erinnerung war fragil; wer vorsichtig eine Schublage öffnete, nahm die Miniatur durch ein Drahtgeflecht wahr und fürchtete um den Zusammenhalt der Wachsfigur. Boltanski war ganz auf sich selbst geschlossen und suchte in sich selbst zugleich alle. Aus Hunderten solcher Metallkästen mit beschrifteten Aufklebern besteht auch das Archiv der Deutschen Abgeordneten unter Kohlefadenlampen im Berliner Bundestag, das er 1999 einrichtete. Ich und alle anderen: eine ungeheure Zahl.Als er 1994 den Aachenr Kunstpreis erhielt, wünschte er sich eine Festschrift, die nichts weiter enthielte als eine Unzahl von Abbildungen zusammengetragener Fotoreproduktionen unbekannter Menschen. schwarz-weiß gedruckt auf dünnem Telefonbuchpapier. Über dem Titel MENSCHLIH weisen zwei Passfotos den Autor aus – in einem Abstand von 5 Jahren und 3 Monaten.

Immer mehr liebte der Melancholiker das Dunkel, Kellerräume und Lichterketten. Wir erarbeiteten in Aachen eine Ausstellung langer Reihen von gerahmten Porträtfotos, die in abgedunkelten Räumen einzeln von Armleuchtern angestrahlt waren. Im lichtlosen Keller des Lichtmuseums Unna inszenierte er einen Totentanz.

Dem Sohn eines Juden und einer Katholikin war die Shoa der schrecklichste Bilderkomplex unter all denen, die die Archive der Völkermorde, Zerstörungen und Vernichtungen des 20. Jahrhunderts sammeln. Und in der schamerfüllten Epoche des Erinnerns und Gedenkens arbeitete Boltanski an vielen Ausstellungen und Installationen. Die unzähligen Menschen, denen wir in seinen Fotos begegnen, sind alle, die er in Fotoalben auf Flohmärkten fand – zumeist weiße Europäer – die Völkermorde in Namibia, Kamerun und Papua-Guinea geraten erst jetzt in das öffentliche Gespräch.  Die Geschichten, die die Ermordeten umgeben, sind seine Geschichten. Ihre Zerbrechlichkeit hat er, bevor er starb, in einem Archiv von Herzschlägen zu sammeln versucht.      

Boltanski ist am 14. Juli 77-jährig gestorben.


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Dürer Glyphosat

Zur DÜRER-Ausstellung im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum

Es gibt Drucke der Wasser- und Deckfarbenzeichnung „Das große Rasenstück“ von Albrecht Dürer 1503 für 7 bis 110 €, mit der Beschriftung „Albrecht Dürer. Das große Rasenstück. 1503/ 1987“ und der collagierten ausgelaufenen Dose eines Glyphosat Unkrautvernichtungsmittels kann man es nur noch als Postkarte bei Klaus Staeck für 6 € erwerben.

In einem Kasten schaue ich auf meinem Balkon insektenfreundlichem Wiesensamen zu, der zu einem Dürerschen Rasenstück gewachsen ist, und bewundere den Zeichner, der nichts anderes gesucht hat als den Wegrand seines GaEsrtens. Dort gelang es ihm, den Widerstand seines Unvermögens zu überwunden. Es ist nicht auszuschließen, dass er die Pflanzen imBoden trennte, und einzein zeichnete, Wahrscheinlich hatte er für sie ebenso wenig einen Namen wie ich; Löwenzahn, Knäuelgras, Breitwegerich, Ehrenpreis, Schafgarbe, Gänseblümchen.

Dürer vertritt die erste Generation der Neuzeit, die genau hinzusehen lernte. Staeck gehört zu ihrer letzten, die nicht einmal hinschauen muss, um zu begreifen, dass es um Leben und Tod geht, dass es ein Kinderspiel geworden ist, die Rasenstücke dieser Welt mit Giften aus den Retorten so zu vernichten, dass nach ihnen nichts mehr wachsen wird. Die Satire ist bitter – und bitterer noch, weil ein sehr altes Bilddokument die Liebe, Zuneigung, Sorgfalt und Ehrfurcht einer Sammlung von Gräsern entgegenbringt, deren Namen wenige kennen. Und ein Maler, der den Mut besitzt, Gott und zahlreiche Heilige zu gestalten, hat sich zu ihnen gebeugt.

Der Satiriker, der die auslaufende Dose einfügt, ist grob und gewaltsam wie das Gift, das er angreift, Er weiß, dass Glyphosat als Unkrautbekämpfungsmittel in Deutschland 1974 zugelassen wurde. (Mittlerweile haben es dir Österreicher verboten).Er braucht Dürer, um dem Rasenstück den Fluch des Unkrauts zu nehmen, als ob es heute noch nötig wäre, wo ganze Wiesenareale geschützt werden, um den Bienen zu dienen.  Die Satire verliert ihre Schärfe, und schamvoll setzt der Zeitgenosse seinen Namen auf die Rückseite des Blattes.

Der Nachbar des Heidelbergers, BASF in Ludwigshafen ist noch heute fest in die Probleme verstrickt, die das Gift global ausbreitet. 


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Sozialfall Dürer

Zur D Ü R E R – Ausstellung im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen

 Die Zeitgenossen unter den Künstlern mögen sagen: Was bdeutet uns Dürer heute? War Werner Tübke der einzige, der im altdeutschen Stil malen und zeichnen konnte? Zu den Sonderlingen, die ihre Bilder anonym im öffentlichen Raum zu verbreiten begannen, gehörte 197! Klaus Staeck, Rechtsanwalt. Er ließ sie im DIN A 1 Format drucken und auf Litfassäulen plakatieren Das Bild, das die Nürnberger 1971 erschreckte, war an die Haus- und Grundbesitzer gerichtet, die sich zu einem Kongress versammelt hatten. Wer war die verknöcherte Alte mit den seherischen Augen, der sie kein Zimmer vermieten würden?  Keine Schwarze, Behinderte, Muslimin, Exhibitionistin, Künstlerin, sondern eine Greisin, ein Pflegefall, eine geringe Provokation, ein Apell an das Mitgefühl mit dem Hintergedanken: grault man jetzt die Alten aus ihren Sozialwohnungen?

Das Plakat trug keine Signatur und kein Impressum. Gebildete Medienfreaks hatten das Original in der Dürer-Ausstellung des Museums gesehen und vermuteten einen Werbegag.

Ohne Zweifel hatte Dürer seiner Mutter nicht geschmeichelt, als er sie 1514 zeichnete, sondern die komprimierte Summe eines Lebens dokumentieren wollen, das allen Fährnissen (18 Geburten!) widerstanden hat. Sie war 63 Jahre alt und ist 14 Tage später gestorben. So hatte er 1512 auch seinen Bruder Andreas gezeichnet; und allein durch die Vergrößerung von 42 x 30 cm auf DIN A 1 hat Staeck die Zeichnung verfremdet. Die deutlich gesetzten rotbraunen Buchstaben des Fragesatzes reduzieren den Sinn des Bildes schmerzhaft auf ein Argument: kein Zimmer für die Alte. Wer erlaubt sich solch eine Frechheit? Darf er das?  Schützt die Freiheit der Kunst das Bild einer alten Frau, wenn sein Autor Albrecht Dürer heißt? Gilt Kunstfreiheit, wenn sie sich gegen Kunst richtet?

Staeck, der Rechtsanwalt, war um 1970 mit seiner Heidelberger „Edition tangente“ in Kunstkreisen bekannt und gab politische Satiren in der Nachfolge von John Heartfield als Plakate mit dem Verleger Gerhard Steidl in Göttingen heraus – in wachsenden Auflagen von über 10.000. Das Plakat mit dem Bild von Dürers Mutter nannte er „Sozialfall“. Staeck ist Dürer gefolgt. Auch er war in Aachen: 1970. Da hatte ich ihn gebeten, nicht zu Dürer, aber zum 200.Geburtstag Beethovens einen Beitrag zur Ausstellung der Neuen Galerie  zu leisten. Er fotografierte die äußerst anspruchslosen Hausfassaden der Aachener Beethovenstraße.

Staeck


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Zum Tod von Inge Baecker

ZUM TOD VON INGE BAECKER

Die Epoche „FLUXUS RUHRGEBIET“ ist in diesen Tagen schrecklich zu Ende fegangen – in einem alten Haus in Münstereifel, über das eine Wasserkatastrophe hereinbrach, in dem Notrufe einer Einsamen verhallten und ihr Atem versagte. Die Galeristin Inge Baecker starb 77-jährig unter einem Baldachin von Erinnerungen, die die dynamischste, schöpferischste Epoche des Rheinlandes tragen, als Bonn die Hauptstadt der BRD war.

Sie schien immer allein gewesen zu sein und schützende Orte als Arbeitsplätze zu lieben, eine Tiefgarage in Bochum, einen römischen Wachturm in Köln, eine Burg in der Eifel. Ich erinnere mich an ein blasses Gesicht und eine leise, feste Stimme, an ihre Verlässlichkeit und  ihr  geringes Interesse an Kunstwerken als Handelswaren. Die umfangreiche Liste der Künstler, die sie betreute, beginnt mit dem umtriebigen Wolf Vostell, der sie aus der Sphäre der Grafik und Auflagenkunst hinausführte in das freie Feld der Installationen und happenings, und öffnet sich weit in die Musik, Literatur, Performance-, Film- und Videokunst, in dem eine Schellackplatte den kulturellen Wert eines Gemäldes aufhob. Und die Welt schien ihr grenzenlos. Bei ihr traf ich den Russen Tschuikow ebenso wie den Amerikaner Kanovitz, und als ich mit dem Aachener Sammler Klaus Pavel eine Ausstellung brasilianischer Kunst vorbereitete, half sie mit großem Engagement. Sie förderte Dialoge zwischen Künstlern und Institutionen in Istanbul und Thessaloniki, und zuweilen nahm der Kölner Römerturm den Ausdruck einer europäischen Kommandozentrale an. Und da war sie, unauffällig in ihren Kleidern und Geltungswünschen, frei von Instagram-Botschaften. Ihr Facebook-Eintrag zeigt ihr mangelndes Interesse, vor den Künstlern zu erscheinen, deren Interessen sie vertritt. Sie steht hinter ihnen, in ihren Schatten. Dort hätte die Schülerin von Max Imdahl an der 1965 gegründeten Ruhr-Universität Bochum seine Philosophie vom „Sehenden Sehen“ weiterführen können. (Aber schon 1975 beteiligte sie sich an der Düsseldorfer Ausstellung „Sehen, um zu hören“) Der Rückzug in die Eifel ließ vermuten, dass sie über eine Summe ihrer Lebensarbeit nachdachte.

Der Tod wischt gemächlich viele Namen von der großen Tafel, die die Epoche des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts vorstellt. Wir begegnen ihnen in den Museen wieder, den Künstlern, ihren Sammlern, Kritikern, Liebhabern und Galeristen. Dort werden wir Inge Baecker begrüßen.


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Identität: Schwul

Identität:  Schwul  

Der Maler Herbert Rolf Schlegel hat 1930 Weimar verlassen, um eine Lehrstelle in einem Landschulheim am Ammersee anzunehmen. Damals malte er ein Bild, das als begutachtetest Selbstporträt im Berliner Schwulenmuseum hängt.  Ein nüchternes Wohnzimmer, eine angstvoll weiße Wand; links ein Bild in Passepartout und gerahmt, rechts ein gefülltes Bücherregal, vor der Wand das Modell, der Maler. Er sitzt leicht nach rechts geneigt auf einem senfgelben Tuch, das ein Sofa bedeckt, bekleidet mit einem langärmeligen Hemd aus feinem, opakem Stoff, einer kurzen Hose mit Gürtel, und eleganten Schnürstiefeln mit hohen Absätzen, die Füße übereinandergeschlagen vor dem Perserteppich am Boden. Seine linke Hand ruht neben einem offenen Buch auf der Sofalehne. Er hat gelesen. Der nahezu kahle

 Kopf ist dem Betrachter zugewendet; er schaut ihn mit einem leisen Lächeln an, als würde er sein Befremden bemerken. Denn in der Tat befremden der himmelblaue leichte Hausanzug, die lilablauen Straßenschuhe und die Konzentration auf Kopf und Knie. Er sitzt angestrengt vor der weißen Wand mit der rechten Faust auf der Sitzfläche, wirkt verlegen, als hätte ihn ein anderer bei einer kleinen Kostümprobe ertappt. Ermessen wir den Mut, sich selbst so darzustellen?

1929 hatte der Strafrechtsausschuss des Reichstages der Weimarer Republik die Homosexualität von Strafen befreit, aber das Gesetz konnte nicht mehr beschlossen werden; die Braunen gewannen die Mehrheit. Es war also mutig, ein Bild dieser Art zu malen, in dem sich ein lesender Künstler, Mitglied einer Minderheit von gebildeten Akademikern, spiegelte, als könnte sie jetzt wagen, öffentlich aufzutreten, ihr Existenzrecht einzufordern. Ein Duft von MSM liegt über dem Senfgelb und Himmelblau, über der Sofadecke, dem Hausanzug und den Schnürstiefeln, Kopf und Knie scheinen grob und klobig in den Requisiten eines Boudoirs. Dieser Maler will nicht bedeutend erscheinen, sondern befremdend. Vielleicht hat er das Bild tatsächlich für eine öffentliche Ausstellung gemalt und riskiert, zurückgewiesen zu werden.

Ein anderes Porträt zeigt ihn mit einer großen schwarzen Perücke in einer schwarzen Bluse mit breitem weißem Rüschenkragen. Er hat das Spiel zwischen den Geschlechtern in einer androgynen Identität vorsichtig, ängstlich, schüchtern so ausleben können, dass weder Lehrer noch Schüler im Internat öffentlich daran Anstoß genommen haben.

Wer sich auf dieses Spiel einlässt, nutzt die Camouflage und viele Elemente des Theaters. Er liebt Frauen, und ihre Bilder sind häufig von Zartheit und Scheu geprägt. Schlegel hat am Ammersee viele Bilder gemalt, in denen offensichtlich Lehrerinnen und Schülerinnen als Modelle gedient haben. In der Zeit des Dritten Reiches hat er sich und seine Arbeit  in der Schule verborgen. Dort ist ihm der Sammler Axel Hinrich Murken nachgegangen, Er hat mich eingeladen, zu einem Buch über das Oeuvre beizutragen. Es ergänzt eine Ausstellung im Museum Haus Opherdicke im Kreis Unna. Sie ist einen Ausflug in eine andere Welt wert.