Beckeraachen

Kunstwechsel

Ein Jüdischer Gottesdienst in Aachen 1944

Ein Kommentar

 

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Der „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

Die 3. Kalendergeschichte: Ein jüdischer Gottesdienst vor Aachen 1944

 

In den letzten Oktobertagen war es kalt und unsäglich in Aachen. Nach den ohrenbetäubenden Detonationen des Artilleriefeuers breitete sich eine unheimliche Ruhe aus. Am 21. hatten die deutschen Truppen vor der 1. US-Infanteriedivision kapituliert. Die wenigen Einwohner, die in der zertrümmerten Stadt geblieben waren, verließen vorsichtig ihre Verstecke, um den einziehenden amerikanischen Truppeneinheiten zu begegnen.

Am 29. versammelte der Rabbi Lefkowitz des Armee-Corps in der sicheren Zone außerhalb der Stadt an den Höckern der Siegfried-Linie die Juden der Division zu einem besonderen Anlass. Er feierte mit ihnen, assistiert von dem Infanteriegefreiten Max Fuchs als Chassan (Kantor), den 1. Jüdischen Gottesdienst auf deutschem Boden seit dem Beginn des Dritten Reichs. Überliefert ist seine bewegende Botschaft: “How sweet upon the mountain are the feet of the messenger of good tidings. The light of religious freedom has pierced through the darkness of Nazi persecution.” (Wie süß sind auf dem Berg die Füße des Boten, der gute Nachrichten bringt. Das Licht religiöser Freiheit ist in die Dunkelheit der Nazi-Verfolgungen gedrungen.) Fünfzig jüdische Gis folgten als Minjan (Gemeinde) dem Kantor im Gesang des Kaddish, der Amida und der Haftara. Sie wussten, dass nicht weit von ihnen die Synagoge gebrannt hatte, dass Millionen ihrer Brüder und Schwestern getötet worden waren. Hier standen sie, den Massakern von Omaha Beach und Hürtgenwald entkommen, auf blutgetränktem deutschem Boden, um ein neues Kapitel der Geschichte des Judentums zu gestalten.

Mordechai Fuchs, dessen Gesang über die Felder schallte,  war als 12-jähriger mit seinen Eltern aus Polen in die USA eingewandert und hatte im Schülerchor der Yeshiva in der Lower East Side von Manhattan gesungen, aber hier auf einem Schlachtfeld die liturgischen Texte des Sabbat vorzutragen, hat ihn so bewegt, dass er heimgekehrt Kantor wurde und 39 Jahre lang in der Synagoge des Bayside Jewish Center in Queens gesungen hat. Er arbeitete ein Leben lang als Diamantschleifer.

Den Gottesdienst hatte das National Jewish Committee organisiert, und James Cassidy, Kriegskorrespondent der National Broadcasting Company, nahm ihn auf. Die NBC begriff die Bedeutung des Ereignisses und sendete die Aufnahme am nächsten Tag ungeschnitten über alle Stationen in den Vereinigten Staaten. Weitere Aussendungen folgten – bis zu einer redigierten Fassung in Youtube. Der Sänger und seine Stimme erreichten in Tagen der Erinnerung an den Holocaust große Bekanntheit. Interviews mit Fuchs erschienen in mehreren Zeitungen. Er ist 2018 94-jährig gestorben. Die New York Times widmete ihm einen langen Artikel.

Das Foto zeigt ihn vor Aachen singend (2. von links) neben dem weiß gekleideten Rabbi.

https://nyti.ms/2IUpglB

 

 

merlin_30253138_349980fa-e287-47f2-a0ca-c5ac8d23a425-jumbo

Ein Kommentar zu “Ein Jüdischer Gottesdienst in Aachen 1944

  1. Pingback: Ein Jüdischer Gottesdienst in Aachen 1944 — Beckeraachen – uwerolandgross

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s