Beckeraachen

Kunstwechsel

Musik als Gewalt?

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Kalendergeschichten – news – fake news

 

Die social media teilen Zustandsbekenntnisse, Kommentare zu Tagesereignissen, Berichte von Erlebnissen, politische Pöbeleien und Berichte über Kunsterfahrungen mit. spontan, improvisiert, und verlieren schnell ihre Aktualität – wie die Tageszeitungen. Deer „Trierische Volksfreund“ erschien1875 zuerst 3x wöchentlich, später täglich. Der „Rheinländische Hausfreund“, der Johann Peter Hebels Kalendergeschichten 1803-14 verbreitete, war dagegen ein Jahreskalender, der die Stunden-Aktualität der social media auf die Dauer von Jahren verlängerte. Nachrichten wurden Literatur.

 

  1. Kalendergeschichte MUSIK ALS GEWALT?

 

Der Eupener Organist Serge Schoonbrodt spielte auf der Orgel von St. Elisabethin Aachen, als die entweihte Kirche 2016 ein pop up HOTEL TOTAL war, die Passacaglia von Johann Sebastian Bach – zu Ehren einer im Gewölbe kreisenden Skulptur des amerikanischen Bildhauers Daniel Rothbart – eine Musik, auf der Straße zu tanzen (passare, calle), laut, mächtig, überwältigend. Ich begriff, dass die Pfeifenorgel, das Instrument der Heiligen Cäcilie, nach schüchternen Anfängen (eine der ersten in der Kapelle Karls des Großen) im Barock des 17. Jh. in die Musik Europas einen die Sinne überschwemmenden Rausch getragen hat, den auch das größte Orchester nicht erzeugen konnte.

Ein Jahr vor seinem Freitod 1811 schrieb Heinrich von Kleist die Novelle „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“, eine Geschichte vom Aachener Dom, dem Nonnenkloster St. Cäcilien, von der wundersamen Aufführung einer italienischen Messe aus alter Zeit, von Bilderstürmern und drei Brüdern, die Aufruhr planten und, gefesselt von der Musik der Messe, nicht aufhören konnten, das Gloria „mit grässlichen und entsetzlichen Stimmen“ zu wiederholen, „ – so mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen, wenn sie zur eisigen Winterzeit das Firmament anbrüllen“, so dass sie ihr Leben in einem Irrenhaus beschließen mussten. Nicht die MACHT der Musik hat diese jungen Männer überwältigt, sondern ihre GEWALT hat ihnen den Verstand geraubt, als hätte sie ein Fluch getroffen.  Ihre Mutter sah später bei der Äbtissin die Partitur des Gloria in excelsis deo. „Es war ihr, als ob das ganze Schrecken der Tonkunst, das ihre Söhne verderbt hatte, über ihrem Haupte rauschend daherzöge.“

War die Orgel ein Instrument, das die Ton- und Lautstärke der Musik wesentlich silbermann Arlesheimerweiterte, so benutzten die Regisseure der russischen Oktoberrevolution  für öffentliche Konzerte Industriesirenen und Kanonenschüsse,  der Komponist  Marinetti hatte in Mailand für seinen „Weckruf der Hauptstadt“ 1909 Schreibmaschinen, Kesselpauken, Kinderknarren und Topfdeckeln eingesetzt, und bis heute hat das komplexe Feld der Mikrofone und elektrischen Verstärker zu Tonvolumina geführt, die nicht nur die Trommelfelle überwältigen, sondern die Körper der Zuhörer vibrieren lassen. Freilich vereinen sich Menschen nicht nur im Erlebnis von Musik, , formen Gesellschaft und begegnen Lust und Schmerz – GEWALT. Der „Schrecken der Tonkunst“ kann hymnische Bekenntnisse. Freudentaumel, Tänze, Räusche, Ekstasen und dauerhafte Verletzungen hervorrufen.  In der „Novelle“ konnte Schwester Antonia die Messe nicht dirigieren. Sie starb im Krankenbett, während eine andere am Pult stand. Cäcilie selbst hat die Brüder gelehrt, das GLORIA zu brüllen.

Abb. Die Silbermann-Orgel in Arlesheim

 

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