34. Kalendergeschichte
Guadalupe Bocanegra
Im Ballsaal des Alten Kurhauses in Aachen erzählte mir ein alter Mann diese Geschichte:
Im Mai 1987 bereitete ich ängstlich hier eine kleine Bühne für eine Performance vor. Der tunesische Künstler Nja Mahdaoui würde den Körper der mexikanischen Schauspielerin Guadalupe Bocanegra mit arabischen Kaligrammen bemalen – die Nacktheit einer Tänzerin mit Schriftzeichen bedecken, wie sie für Texte aus dem Koran uns und allen Moslems bekannt sind. Eine Blasphemie? Unverschleierte? Nackte? Ein Skandal?
Ich hatte Mahdaoui in seinem Haus (von ihm einem Schneckenhaus nachgebaut) in La Marsa nahe dem Karthago-Museum besucht. Seit er die Flughäfen von Jeddah und Ryadh in Saudi-Arabien ausgestattet hatte (er erzählte vergnüglich, dass er sein Honorar in einer mit Dollarbündeln gefüllten Truhe im Büro des Auftraggebers selbst bestimmen durfte – ein schrecklicher Moment!), war er in arabischen Ländern bekannt und bemühte sich um eine Ausstellung im Institut du Monde Arabe, das in Paris 1980 eröffnet worden war. Seine französische Frau lehrte ihre Sprache an einer Schule in Tunis. Sie zeigten mir ihre große Bibliothek und Plattensammlung. Ich musste ihm glauben, dass seine kalligrafischen Improvisationen nicht einen einzigen Hinweis auf den Koran enthalten, dass die Buchstaben einem lesekundigen Araber keinen sinnvollen Text bieten, dass ihn nur das Schreiben/ Malen mit schwarzer Tusche, Feder und Pinsel, die graziöse Bewegung und die Schönheit der arabischen Schriften interessierte. Diese Bewunderung teilte ich seit meinem Besuch einer Kaligrafenschule in Bagdad. Er füllte kleine, große Papiere und ganze Wände mit solchen „Schrift“-Zeichnungen und ergänzte sie durch Farbakzente. In Bergisch Gladbach hatte er die Papierfabrik Zanders auf der Suche nach Papieren, Zellstoffen und Pulp besucht und dort den Künstler Wolfgang Heuwinkel kennen gelernt, mit dem er fortan zusammenarbeitete.
Am 14. Mai saßen nicht mehr als 30 Personen im Ballsaal. Beide Akteure hatten zuvor 24 Stunden gefastet und näherten sich einander, ohne sich zu begegnen. Es wird still. Guadalupe tritt tanzend zu einer Musik „La soif de vivre“ schwarz verschleiert mit roter Maske auf die Bühne und lässt sich auf einer Matte nieder. Nja kniet in bürgerlicher Kleidung vor ihr mit weichem Pinsel und Farbtopf. Die schwarze Tusche hat er angewärmt, um ihre Haut nicht zu erschrecken. Eine Stunde lang schreibt er sanft, vorsichtig von den Armen und Beinen zur Mitte ihres Körpers hin, füllt Brust, Bauch und Schoß stärker als den großen Rücken. Sie bewegt sich dem Pinsel entgegen, schmiegt sich in die Armbeuge des Malenden; ihm stehen Schweißtropfen auf der Stirn; die Zuschauer sind gefesselt. Anders als bei Tattoos entstehen hier keine Bilder, sondern Farbbewegungen, die aus den vom Pinsel erregten Zonen unter der Haut hervorzuwachsen scheinen. Die arabische Kalligrafie ist dem Künstler nur noch eine Gewohnheit, an die er sich in diesem ungewöhnlichen Prozess nicht gebunden fühlt.
Nach dem Ende lockerten sich die Zuschauer in Gesprächen mit Mahdaoui. Protestiert hat niemand. Ein Araber gab sich nicht zu erkennen. Mahdaoui gratulierte zu meinem Mut. Im Pariser Institut du Monde Arabe könnte die Performance nicht stattfinden. Aus den Fotos der Anne Gold und Texten der Beteiligten ist eine kleine Broschüre entstanden, die den ungewöhnlichen Vorgang festhält. Guadalupe Bocanegra starb 2019 in Paris. 1999 bis 2004 hat sie dort im Frida Kahlo – Festival die berühmte mexikanische Malerin „nachgelebt“. Mahdaoui hat zuletzt die Geschäftszentrale von Facebook in San Francisco ausgestattet – arabisch kalligrafisch, versteht sich.