- Kalendergeschichte
Der 1. Mai 1961 in Ostberlin
Im Kölner Kunstgewerbemuseum in der Eigelsteintorburg hat mir, einem einsamen Besucher, 196o sein Direktor Erich Köllmann in die Augen geschaut und empfohlen, Möhren zu essen. Der Würdenträger und der Student der Kunstgeschichte im 1. Semester wurden Freunde. In seiner Wohnung durfte ich die Sammlung kostbarer Porzellane fotografieren. Er erregte sich sehr, als seine Putzfrau eine der Figurinen beschädigte. Sie stellte mir ihren Sohn vor, er zeigte mir seine Gemälde – im Stil Dalis. Meine ersten Schritte in das Forschungsfeld der Kunstgeschichte nach der Ära der Düfte bei 4711 – kleine Abenteuer.
Im Märkischen Museum in Ostberlin hatte Erich Köllmann Material für sein Buch über die Geschichte des Berliner Porzellans gefunden. Er kannte dort einen Bestand von historischen Aktfotos, die Porzellanmodellierern als Anregungen für ihre Figuren gedient hatten. Diesen Bestand sollte ich mit meiner kleinen 4×4 Rollei fotografieren.
In den letzten Apriltagen 1961 fuhr ich täglich durch die Grenzkontrolle Friedrichstrasse zu dem imposanten Gebäude des Märkischen Museums im Köllnischen Park und wurde belustigt vom Personal empfangen: der Junge aus dem Westen, der sich für die Nacktfotos im Keller interessiert. Es waren Hunderte. Ich nahm mir vor, eine Auswahl aus den vergangenen Jahrzehnten zu dokumentieren.
Damals kannte ich niemand in Berlin. Und im Westberliner Hotel zogen alle vor, den Osten zu meiden, ein Gelände, das von Menschen einer anderen Art bewohnt wurde und allzu deutlich die Nachwehen des Krieges zeigte: Ruinenfelder, schnell hochgezogene Wohnbauten, ärmlich ausgestattete Eckkneipen, Polizeipatrouillen. Im Museum half mir Frau Zix. Sie wohnte im Westen und lud mich zu einem Sonntagsessen in ihr Haus in Staaken ein. Sie ahnte nicht, dass in vier Monaten eine hohe Betonmauer ihr Haus von ihrem Arbeitsplatz trennen würde. Wir wanderten zur Zitadelle von Spandau, und sie verspottete alle, die hier und nicht im Kriegsverbrechergefängnis nebenan Hess und Speer vermuteten.
Ruhe und Frieden schienen im Arbeiter- und Bauernstaat am 1. Mai zu herrschen. Ich war so unpolitisch, dass mich die Tribüne der Würdenträger nicht interessierte. Ich kannte sie nicht einmal beim Namen. Nur Breschnew sah mich von einem der großen Plakate an. Aber der Mann mit der Spitzhacke, der sich den Ärmel hochkrempelt, paßte in die Stadtlandschaft so wie der mit der phrygischen Mütze, der die Zunge herausstreckt, Rest eines Fassadendekors. Das monumentale Plakat zur Wiederaufrüstung gibt mir heute Rätsel auf: die Volksarmee und die Bundeswehr waren nach heftigen Auseinandersetzungen 1955 entstanden ebenso wie die beiden Staaten in den zwei Machtblöcken des kalten Krieges. Und machte dieses Bild Sinn im Osten und am 1. Mai? Ich fotografierte es ebenso unschuldig wie den sozialistischen Vers über dem Hauseingang.
Als ich die Ergebnisse meiner Arbeit in der Wohnung Köllmanns abliefern wollte, herrschte dort helle Aufregung: ein Einbruch, ein Überfall, eine Verletzung. Mir wurde geraten, den Kontakt zu meiden.