Identität: Schwul
Der Maler Herbert Rolf Schlegel hat 1930 Weimar verlassen, um eine Lehrstelle in einem Landschulheim am Ammersee anzunehmen. Damals malte er ein Bild, das als begutachtetest Selbstporträt im Berliner Schwulenmuseum hängt. Ein nüchternes Wohnzimmer, eine angstvoll weiße Wand; links ein Bild in Passepartout und gerahmt, rechts ein gefülltes Bücherregal, vor der Wand das Modell, der Maler. Er sitzt leicht nach rechts geneigt auf einem senfgelben Tuch, das ein Sofa bedeckt, bekleidet mit einem langärmeligen Hemd aus feinem, opakem Stoff, einer kurzen Hose mit Gürtel, und eleganten Schnürstiefeln mit hohen Absätzen, die Füße übereinandergeschlagen vor dem Perserteppich am Boden. Seine linke Hand ruht neben einem offenen Buch auf der Sofalehne. Er hat gelesen. Der nahezu kahle
Kopf ist dem Betrachter zugewendet; er schaut ihn mit einem leisen Lächeln an, als würde er sein Befremden bemerken. Denn in der Tat befremden der himmelblaue leichte Hausanzug, die lilablauen Straßenschuhe und die Konzentration auf Kopf und Knie. Er sitzt angestrengt vor der weißen Wand mit der rechten Faust auf der Sitzfläche, wirkt verlegen, als hätte ihn ein anderer bei einer kleinen Kostümprobe ertappt. Ermessen wir den Mut, sich selbst so darzustellen?
1929 hatte der Strafrechtsausschuss des Reichstages der Weimarer Republik die Homosexualität von Strafen befreit, aber das Gesetz konnte nicht mehr beschlossen werden; die Braunen gewannen die Mehrheit. Es war also mutig, ein Bild dieser Art zu malen, in dem sich ein lesender Künstler, Mitglied einer Minderheit von gebildeten Akademikern, spiegelte, als könnte sie jetzt wagen, öffentlich aufzutreten, ihr Existenzrecht einzufordern. Ein Duft von MSM liegt über dem Senfgelb und Himmelblau, über der Sofadecke, dem Hausanzug und den Schnürstiefeln, Kopf und Knie scheinen grob und klobig in den Requisiten eines Boudoirs. Dieser Maler will nicht bedeutend erscheinen, sondern befremdend. Vielleicht hat er das Bild tatsächlich für eine öffentliche Ausstellung gemalt und riskiert, zurückgewiesen zu werden.
Ein anderes Porträt zeigt ihn mit einer großen schwarzen Perücke in einer schwarzen Bluse mit breitem weißem Rüschenkragen. Er hat das Spiel zwischen den Geschlechtern in einer androgynen Identität vorsichtig, ängstlich, schüchtern so ausleben können, dass weder Lehrer noch Schüler im Internat öffentlich daran Anstoß genommen haben.
Wer sich auf dieses Spiel einlässt, nutzt die Camouflage und viele Elemente des Theaters. Er liebt Frauen, und ihre Bilder sind häufig von Zartheit und Scheu geprägt. Schlegel hat am Ammersee viele Bilder gemalt, in denen offensichtlich Lehrerinnen und Schülerinnen als Modelle gedient haben. In der Zeit des Dritten Reiches hat er sich und seine Arbeit in der Schule verborgen. Dort ist ihm der Sammler Axel Hinrich Murken nachgegangen, Er hat mich eingeladen, zu einem Buch über das Oeuvre beizutragen. Es ergänzt eine Ausstellung im Museum Haus Opherdicke im Kreis Unna. Sie ist einen Ausflug in eine andere Welt wert.
