Cutting Paris – Gordon Matta-Clark 1976
Eine Kalendergeschichte
1976 stehen Gordon Matta-Clark und ich im 6. Stock des Centre Pompidou, das am 31.1. 1977 eröffnet werden wird, und blicken auf die Rue Beaubourg, deren Häuserfront „zitternd“ auf den Abriss wartet. Das „Marais“, die auf Seine-Sümpfen gehäufte Altstadt Paris, ist seit dem frühen 20 Jahrhundert nicht mehr saniert worden und bietet Wohnungen in vielen Geschossen allen Gewerben am Rand der Legalität. Jetzt würde das neue Museum Menschen aus der ganzen Welt in das Stadtviertel locken, und das Picasso-Museum sollte den großen Magneten ergänzen.
Gordon hat mich vor 2 Jahren in Aachen besucht. Wir kannten uns, Nancy Graves hatte mich in sein FOOD Restaurant in Soho eingeführt. Jetzt zeigte er mir eine lange Rolle von Schwarz-Weiß-Fotos der New Yorker U-Bahn, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte von vorne bis hinten mit Graffiti bemalt war. Die Tags der unbekannten Autoren hatte er auf den Fotos mit Farbstiften nachgezogen. Wir zeigten die Rolle in der Neuen Galerie, und Wolfgang Richter hat sie in der Aachener Zeitung besprochen.
Gordon hatte in New York für Aufsehen gesorgt, als er in die große Blechwand einer verlassenen Lagerhalle im Hafengelände am Hudson River mit Kettensägen eine monumentale Öffnung schnitt, die weithin sichtbar war: ein erstes „cutting“, das ihn zwang, vor den Behörden nach Paris zu fliehen.
Mein Foto steht für den Beginn einer Epoche der Abrisse, Sanierungen und Neubauten in New York, Paris und vielen anderen Städten und illustriert einen Paradigmenwechsel der Kunst- und Kulturgeschichte, den der umtriebige Gordon mitgestaltete. Eine seiner Arbeiten nimmt die Weltpresse auf, ein großes rundes Loch in der Außenwand eines Hauses im Marais, das wir von hier aus links sehen können. Dort führt er vom Keller bis zum Dach zahlreiche „cuttings“ so aus, dass wir sie nur vorsichtig an den Wänden entlang umkreisen können. Das Loch „schielt“ hinüber zu dem großen Fremdkörper des Ingenieurbaus von Renzo Piano, der sich wie der Satellit eines anderen Sterns hier niedergelassen hat. (Anders, auf freiem Feld, entsteht in diesen Monaten der größere, zweite Ingenieurbau, das Klinikum in Aachen.)
Der Galerist Yvon Lambert zeigt mir die Fotos der „Sous-Sols de Paris“, cuttings in Kellern, und erzählt, wie Gordon den Tod seines Zwillingsbruders John Sebastian Matta verarbeitet. Wie ich bewundert er die schöpferische Besessenheit des „Anarchitekten“. Gordon zeigt uns einen Katasterplan von New York mit langen eingezeichneten „Pfeilspitzen“: Grundstückreste, die er für geringe Beträge erworben hat, um sie teuer zu verkaufen, wenn sie für einen Neubau gebraucht würden. Gelächter.
Wir bewegen uns von einer Baustelle zur nächsten. In den Ausstellungsräumen begegnen wir dem Porträt Richard Serras von Chuck Close und einigen anderen Leihgaben aus Aachen. Pontus Hulten freut sich. Sein Haus wird Museumsgeschichte schreiben und KUNST aus dem akademischen Käfig ihrer autonomen Selbstbestimmung herausheben, Noch sind alle Etagen durchgehende Hallen, in denen die Service-Bereiche – Bilder-, Bücher-, Video- Ausstellungen – als freistehende „Installationen“ eingerichtet würden.
Das Foto ist oben entstanden, wo ein Restaurant einen weiten Blick über Paris erlauben wird. Gordon verabschiedet sich. Er ist auf dem Weg nach Antwerpen. (2 Jahre später ist er 35-jährig gestorben.)
