K U N S T P R E I S A A C H E N – N A C H R U F
247 Autobomben hat die Atlas-Gruppe um Walid Raad in Beirut gezählt und die Löcher lokalisiert, die sie in Beirut im Bürgerkrieg hinterlassen haben, 247 Dokumente sind in dem Archiv der Gruppe zu finden, Zeichnungen, Texte und Fotos. Dort sind auch die Videotapes, die ein Armeeangehöriger der Gruppe geschenkt hat, der beauftragt war, die berühmte Uferpromenade Beiruts, die Corniche, zu bewachen, und aus Langeweile wochenlang die Sonnenuntergänge aufgenommen hat (er wurde entlassen), und die Fotos aller explodierten Geschosse, die die Jugendlichen in den Straßen Beiruts sammelten, wenn die Angriffe vorbei waren (wie unsere Kinder die ausgebrannten Raketen nach Silvester) und nach ihrer Herkunft sortierten: USA, Russland, China, Frankreich, Israel, Deutschland. Das Archiv ist in der website Raads trocken methodisch geordnet, und es lohnt sich, die Informationen durchzusehen und sich Rechenschaft über den Grad der Wirklichkeit zu verschaffen, die sie wiedergeben. Sind sie erfunden? erlebt? vermittelt? gefälscht? (Ich habe als 7-jähriger mit Freunden ein englisches Jagdflugzeug geplündert, das über dem Wattenmeer vor Büsum niedergestürzt war, und rekonstruiere heute die Gegenstände, die wir herausgenommen haben.) Walid Raad wäre kein Künstler, würden nicht die Gegenstände, die er entdeckt und behandelt, ihre banale Wirklichkeit verlieren und in die Sphäre eintreten, in der ein Stuhl zu sprechen beginnt (etwa zu seinem Besitzer).
Die neue Ära der Angst., der Feigheit, des Misstrauens, der Überwachung, in der wir leben, lässt nicht zu, den libanesischen Künstler ebenso als Träger des Kunstpreises Aachen zu würdigen wie seine illustren Vorgänger. Dabei hatten die Stifter eigentlich im Sinn, sich selbst, die kleine, unbedeutende Kunststadt mit seinem Namen zu schmücken, ihre Offenheit, Experimentierlust, Toleranz gegenüber dem Fremden zu feiern, um mehr zu sein als die Stadt des Karlspreises und des Reitturniers. Es ist misslungen. Der Künstler wird die Stadt in dunkler Erinnerung behalten, und ihren Bürgern wird versagt sein, sein Werk kennen zu lernen. Wer wird schon in seine website schauen?