Beckeraachen

Kunstwechsel

Verrückt werden

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Verrückt werden – eine Kalendergeschichte

Anita führte ein Restaurant in Rapallo und bewirtete uns. Wir besuchten ihren Mann. der Genovese Enrico Pedrini, Apotheker in Florenz, Kunstsammler, und ich, Kurator aus Aachen. Claudio Costa, ein großer, kräftiger „Neptun“, schwamm gern und spielte mit seiner Tochter Marisol am Strand. Wir wunderten uns, dass er sich mittags lange in dunklen Winkeln versteckte, als brauchte er Zeit, um sich zu erkennen. Wer bin ich? Woher komme ich?

Claudio hatte sich bei den Kabylen in Algerien und Marokko aufgehalten, deren Aussehen, Verhalten, Sprache und Schrift sich im Widerstand gegen zahlreiche Kolonisatoren erhalten hat. Wer konnte besser die Fragen nach seiner Herkunft beantworten? Er dokumentierte Hautfarben, Tatous, Geräte und näherte sich Künstlern wie dem Deutschen Nikolaus Lang, der dem vergangenen Leben der Alpenvölker nachging, und dem französischen Paar Anne und Patrick Poirier, das seine Bilder aus der römischen Kultur schöpfte. Die unbändige Sehnsucht, sich von der hassenswerten Gegenwart zu lösen, ihren Überfluss zu verachten, die Geschichte der Welt nicht als Summe von Fortschritten. sondern als Lauf von Rückschritten zu empfinden, lebten sie waghalsig aus. Am Tag der Eröffnung der documenta 6 1977 in Kassel lag Claudio dort gefesselt in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrischen Anstalt. Er hatte die Freude, dabei zu sein, nicht ertragen und den Ort des Künstlerfestes demoliert. Die Ärzte baten mich, den Kurator, ihn aus seinem Trauma zurückzurufen. Ich rief vergeblich. Eine Woche später schickte er mir eine Postkarte aus Rapallo mit den Raben über dem Getreidefeld in Auvers von Van Gogh. Er nahm noch an der Biennale von Venedig 1986 teil und suchte mehr und mehr in den Wissenschaften der Anthropologie und Paläontologie nach verlässlichen, logischen Lösungen der Rätsel, die ihn bedrängten, ,gründete ein „Institut zu  unbewusster Materie und Form“, und das Krankenhaus von Genua erweiterte seine Psychiatrische Abteilung um ein großes Atelier, in dem er Materialien ansammelte, Arbeiten ausstellte und Arbeitsgruppen mit Sympathisanten beschäftigte. Enrico Pedrini wünschte, ihm ein „Museum des Menschen“ in Mailand einzurichten, doch Claudio starb überraschend, 53 Jahre alt.

Er hinterließ mir einige große Blätter mit Motiven, in denen er Fotos der Berber glasiert und mit verschiedenfarbigen Platten aus farbigen Erden kombiniert hatte. Unter dieses Blatt klebte er einen langen, mit einer Schreibmaschine gesetzten Text in deutscher Sprache, der seine lebenslange Suche schildert.

„Die Reflexe des Waldes auf Körpern und Gesichtern Immer ist es das gleiche Bild und wir erleben den Wunsch durch das Bild zu schauen in das Imaginäre und den Ursprung und den Beginn zu erkennen“.

Seit er dies geschrieben hat,  nimmt die Ratlosigkeit zu. Wie wird mich die Apokalypse treffen? Immer mehr Bewohner des Erdballs – Pflanzen, Tiere und Menschen – werden  Claudio folgen und verrückt werden.

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