Seidenstraßenkunst – Eine Kalendergeschichte
1996 saß ein junger Mann in Peking vor der Nationalgalerie und bot an, eine Ansicht des HUANG SHAN mit einem feinen Pinsel und schwarzer Tusche auf einen DIN-A 4 Karton in 15 Minuten zu malen – für 5 US $. Alle kennen die Heiligen Berge und die Kunst der Tuschmalerei, und die ihm zuschauten, freuten sich, wie die Felsen und Bäume vor ihren Augen auf dem weißen Papier entstanden.
In den Hallen des Museums standen sie dagegen unwissend vor den Werken der Sammlung Ludwig aus Europa und Amerika. 10 sehr große (180 x 230 cm) Linolschnitte von Jörg Immendorff kommentierte ein Mann, der sie überragte: Li Hong-tao, ein feiner, gebildeter Maler, dem der Ruf vorauseilte, nicht nur das Wesen von Kunstwerken zu erkennen, sondern in das Innere anderer Menschen zu sehen und ihre Krankheiten zu heilen. Das Kulturzentrum der Stadt hatte ihn eingeladen, die exotischen Arbeiten zu erklären. Was ist Linoleum? Womit schneidet man Linoleum? Wie groß muss eine Maschine sein, um solche Linolschnitte in 4 Farben zu drucken? Viele Werke dieser Ausstellung ließen erst am Ende die Antwort auf die Frage zu, was sie darstellten. Viel wichtiger erschien dem Publikum: wie waren sie hergestellt? Man kannte seit Jahrhunderten Papier, Tuschsteine und Pinsel, Holzschnitte und gerollte Bilder. Erst als sich China in den kriegerischen Wirren um 1900 dem Westen öffnete, wurden Ölfarben inTuben bekannt. Li Hong-tao war ein Ölfarben-Maler und wünschte sich, seine Bilder neben Ölbildern europäischer Maler zeigen zu können.
Ein Gast des Pekinger Goethe-Institut besuchte das Atelier von Li Hong-tao und vermisste dort alles, was er für chinesisch hielt: die feine kalligrafische Tuschmalerei, die Gegenständlichkeit; stattdessen zeigte ihm der Maler sein neuestes Bild: seinen groben Auftrag von Ölfarben von der Palette, ihre Mischung zu klumpigen Formen, eine kartografische Komposition; in der er Europa am Beginn des Holozäns zu entdecken meinte, als die Landmassen der Kontinente und Inseln aus dem tiefen Atlantik wie Felsen hervorragten. Besser konnte der chinesische Maler sich nicht verstecken: jeder Betrachter des Bildes konnte das chinesische Meer in dieser Landkarte suchen oder annehmen, der Maler lebe in Europa – wie Zao Wou–ki in Paris.
Es gibt wahrscheinlich weniger europäische Fälscher chinesischer Meisterwerke als chinesische, die Bilder von Van Gogh, Monet oder Matisse in großer Zahl kopieren. Der Kunstmarkt der kleinen Preise nutzt die Seidenstraße gern. Li Hong-tao ist kein Fälscher, aber er nimmt gern in Kauf, für einen Exoten der Ecole de Paris gehalten zu werden – so wie Zao Wou-ki oder die Araberin Far El Nissa Zeid.
Der junge Maler der Heiligen Berge vor der Nationalgalerie begleitete den Gast des Goetheinstituts in die Kunstakademie. Die Studenten fragten ihn über den deutsche Künstler Mas-Dew -iiz aus. Sie meinten Baselitz.
