Eismänner
Eine Kalendergeschichte
im großen Geviert einer zehnstöckigen Siedlung sind die ersten Männer am frühen Morgen auf die Balkons ihrer Wohnungen getreten. Es hat geschneit. Es ist kalt. Sie sind nackt. Die in die Morgensonne blinzeln, spüren ihre Wärme – Hyperthermie. Die im Schatten stehen, zittern in der Kälte – Hypothermie. Ihre Kinder und Frauen drücken die Nasen auf die Schneekristalle an den Fensterscheiben. Sie sind stolz auf die Väter. Die Männer bereiten die Arme aus, stoßen lange Luftfontänen aus, saugen sie in ihre Lungen zurück und zählen laut, so lange sie können. Alle, auch die in der Sonne, stehen fest auf beiden Füßen und schauen in den Kosmos. Selten begegnen sich ihr Augen. Tadelnd bemerken sie Vakanzen. Wieder hat sich einer erkältet. Die Balkons der Sonnenseite leeren sich schneller, die Atemluft erwärmt sich, ihre therapeutische Wirkung lässt nach. Diese Männer legen sich in den Wohnungen zwischen zwei Kissen, die mit heißem Wasser gefüllt sind, und unter Infrarotstrahler, die dazu beitragen, ihre Körpertemperatur schnell auf 45° zu erhöhen. Die der Schattenseite setzen ihre Atemübungen fort, bis ihre Bronchien knirschen und ihre Lungen eine Temperatur von -10° erreichen.
Es hat damit angefangen, dass einer die Bücher von Wim Hof anbot, in denen Empfehlungen der Hypo- und Hyperthermie für andauernde Gesundheit und ein langes Leben ausgebreitet sind. Jetzt, da eine Epidemie die Menschen zwingt, zu Hause zu bleiben, unterhält sie eine distanzierte Gemeinschaft von Verschworenen. Auf der Wiese unter den Balkons haben jetzt Frauen damit begonnen.
Am Abend zünden alle Kerzen auf ihren Balkons an und stellen Kofferradios neben sie, aus denen eine sanfte Männerstimme über das Leben nach dem Tod spricht. Die Siedlung gehört mittlerweile einer religiösen Genossenschaft, an der alle Bewohner beteiligt sind.
