Für Mary Wollstonecraft
46. Kalendergeschichte
Will eine Frau einen Mann für sich gewinnen, so bietet sie ihm Herrschaft wie die Göttin Hera, Weisheit wie Athena oder Liebe wie Aphrodite. Europäische Künstler konnten diesem Leitbild des Paris-Urteils folgen, solange sie unter sich waren. Die Venus von Milo im Louvre wurde ihnen das Leitbild der Schönheit, die Freiheit, die das Volk führt, von Delacroix das Leitbild der Macht, und das Leitbild der Weisheit hat sich an die Mona Lisa geheftet.
Vor 3 Wochen wurde im Norden Londons, dort, wo die Ahnfrau des Feminismus, Mary Wollstonecraft, seit 1784 eine Mädchenschule leitete, die Bronzeskulptur einer lebensgroßen nackten Frau von Maggi Hambling, einer bekannten britischen Malerin und Bildhauerin, als Denkmal des Feminismus eingeweiht. Sie provoziert als “perfectly formed wet dream of a woman“ein Streitgespräch unter Frauen. Hambling verteidigt sich: sie habe sie dem „traditional male heroic statuary“ entgegengestellt.
Mary Wollstonecraft hoffte, eine neue Art der Frau zu schaffen(“I do not wish them to have power over men; but over themselves“) und Maggi Hambling hoffte, ihr folgen zu können – eine neue Species, die, unabhängig von der Fantasie der Männer, ihren eigenen Fantasien folgt. Für mich, den alten Kunsthistoriker, der von den Leitbildern der griechischen Antike geprägt ist, hat sie ein erschreckendes Frauenbild geschaffen, : die „Allerweltsfrau“ (“everywoman“) tritt nicht graziös hervor und bedeckt nicht ihre Scham wie Botticellis Venus, sie steht mit angelegten Armen „zur Parade“ auf einer Blüte aus Lehm und schaut ernst ins Weite. Die kurzen Haare folgen der Form des Kopfes, die Geschlechtsmerkmale – Brüste und Scham – sind kräftig betont. In diesem Vorort von London ist sie eine Europäerin mittleren Alters, die sich den schätzenden Blicken derer anbietet, die sie in ihren Kreisen aufzunehmen bereit sind: keine Göttin, keine Mutter, keine junge Frau, die sich wünscht, eine Familie zu gründen. Sie folgt einer Vorstellung, die faschistische und sozialistische Frauengruppen in ertüchtigenden Sport- und Tanzveranstaltungen geprägt haben.
Es versteht sich, dass mich als Mann diese Statue anders verwirrt als Feministinnen, die ihre Nacktheit bemängeln. Vielleicht ist es die nahezu kämpferische Pose der Frau, die nicht bereit ist, im Hintergrund ihres Spiegelbildes das Gesicht eines Mannes zu sehen. Sie ist eine Arbeiterin im Anthrpozän, die hofft, eine Geschichte hinter sich zu lassen, die vor 5000 Jahren begonnen hat. Sie hat das Füllhorn des Eros verbrannt: die unendliche Geschichte der Verführungen, Ekstasen, Vergewaltigungen, Entbehrungen, Sehnsüchte, Tragödien, der Rache und des Glücks. Maggi Hambling zeigt sie gesund. kräftig, vorwärts blickend. Wird sie zur Rettung der Welt beitragen?
