- Kalendergeschichte – Friedensskulptur in Jütland
Weil Dänemark 2020 25 Jahre frei von der deutschen Besetzung ist, werden wir am Himmel des nächtlichen Kopenhagen an die „Friedenslinie“ erinnert, einen armdicken blau leuchtenden Laserstrahl, der 1995 die jütländische Nordseeküste entlang über den 50 Bunkern leuchtete, die die Deutschen dort im 2. Weltkrieg bauen ließen. Die Künstlerin Elle-Mie Ejdrup-Hansen kuratierte dieses aufwendige Erinnerungsprojekt und bot mir 24 Bunker für 24 Künstler meiner Wahl, um je einen zu „bearbeiten“. Joachim Bandau kam, Jean Clareboudt, Antony Gormley, Geoffrey Hendricks, Jörg Immendorff, Magdalena Jetelova, Nobuho Nagasawa, Micha Ullmann – und Dmitri Prigov.
Prigov war einer der älteren Moskauer Künstler, die nach 1989 im Westen bekannt wurden, Zeichner, Schriftsteller, Konzeptualist – die deutsche Fassung seines Buches „Der Milizionär und die anderen“ mit dem Kapitel „Die Braut Hitlers“ und der kleine Gedichtband „Fünfzig Blutströpfchen in einem absorbierenden Milieu“ waren 1992 und 93 bekannt geworden, große Zeitungscollagen wurden Teil unserer Sammlung. Im Ludwig Forum hatten wir gerade „Fluchtpunkt Moskau“ gezeigt. Ich nahm ihn mit nach Jütland.
Um den Observationsbunker von Hirtshals, hoch über dem Meer, inszenierte er„Das letzte Abendmahl“, baute mehrere Tische in gehörigem Abstand um den runden gewölbten Pavillon, ließ schwarze Tuchbahnen von seiner Kuppel herab und zog sie auf dem Hügel über die Tische. Auf jedem Tisch stand ein Glas, gefüllt mit einem roten Getränk, das ebenso Wein wie Blut sein konnte. “Ein Blutströpfchen auf einem männlichen Finger, der aus einem fremden Körper wächst“ heißt es in einem seiner Gedichte. Er liebte das feierliche Pathos von Ungeheuern.
Es war kalt im Frühjahr, und die Inszenierung lud nicht dazu ein, sich an einen der Tische zu setzen und das Glas zu erheben. Der Bunker selbst war abweisend, ein irritierender Ort, der wenige Besucher anzog. Ein surreales Bild bleibt in der Erinnerung, das sich aus der Wirklichkeit des Sondervig-Strandes entfernt hat, ein Bild von Krieg, Blut, Opfer, Ritual und Feier.
Viele Besucher, Schlangen von Jugendlichen zog das „Bunker-Hotel“ von Nobuho Nagasawa an, ein Liebesnest, ausgestattet mit Matratzen, Kissen und Decken, die mit Sand und Zucker gefüllt waren (vor 50 Jahren sollen die Bauunternehmer der Bunker den Zement mit Zucker gemischt haben, damit er sich leichter auflöst, aber Zucker war Mangelware). Und am Abend leuchteten auf den abgerutschten Bunkern im Meer die Statements der Magdalena Jetelova, die sie mit starken Lichtquellen auf den rohen Beton projizierte: kurze Sätze in großen Buchstaben wie ABSOLUTE WAR BECOMES THEATRALIY.
Auf den langen einsamen Sandstränden durften wir mit dem Auto fahren, so dass die Besichtigung dieser Ausstellung an 24 Orten an einem Tag zu bewältigen war – vorbei an dem malenden Affen von Jörg Immendorff und Antony Gormleys 112 Betonschablonen von Einheimischen zwischen 2 und 80 Jahren. Den osteuropäischen Künstlern schien es leichter als ihren Kollegen aus dem Westen zu fallen, die politische Dimension des Anlasses in ein Bild zu fassen; alle hatten Mühe, sich und ihre Arbeit in dem großartigen Spektakel der mächtigen Betonklötze am Meer zu behaupten.