Kunst ABC – Paradigmenwechsel
Der Verlust der Originale
Bleizinngelb, Rubinschwefel, Grünspan, Azurit, Lapislazuli, Malachit – kostbare Farbstoffe bestimmten Gemälde und ihren Ruhm. Bildteile von Ikonen waren mit getriebenem Goldblech bedeckt, geschnitzte Holzrahmen erhöhten die Wirkung vieler hochgeschätzter Werle. Heute erzeugen digitale Drucke nach Aufnahmen hochauflösender Kameras perfekte Illusionen der Originale in allen Größen. Konservative Bildhauer arbeiten noch mit Elfenbein aus Afrika oder Marmor aus Carrara, andere verwenden Glasfasern und Polyurethan und nutzen 3-D-Drucker zur Vermehrung der Originale. Dunkelkammer-Fotografen konnten noch darauf bestehen, dass jeder Abzug aus dem Wasserbad sich vom anderen unterscheidet. Der Tintenstrahldrucker erlaubt keine Varianten.
In meinem Jungen-Schlafzimmer hing ein Poster der Jacqueline von Picasso. In Paris interessierte mich nicht, die Mona Lisa im Louvre zu sehen. Ich kenne sie von Postkarten, aus Büchern und Bildschirmen – wie den umstrittenen Salvator Mundi von Leonardo, die Judith von Caravaggio und den Osterhasen von Jeff Koons, Werke, die sensationelle Preise auf Auktionen erzielen – wie die Tulpenzwiebel in Amsterdam, die 1637 87.000 Euro einbrachte in einem Gesellschaftsspiel der Millionäre, an dem die Künstler kaum beteiligt sind..
Die Bilder Mondrians erzeugten eine öffentliche Diskussion „My child could do it“, und viele Kinder und Erwachsene sind angehalten, so zu malen, zu zeichnen, zu modellieren, dass ihre Ergebnisse an Werke dieses oder jenes Meisters erinnern. Der fluxus-Künstler George Brecht gab 1982 „10 Postkarten zum Mitmachen“ heraus, und Performances von Künstlern – Nam June Paik zerschlägt eine Violine, wiederholt von Geoffrey Hendricks – können weiterleben wie die Wandtexte von Lawrence Weiner. Der land-art-Künstler Robert Smithson schenkte mir, als ich ihn 1971 in New York besuchte, den Entwurf eines „Indoor Work“, den zu realisieren ich mich nie getraut habe, obwohl mich zahlreiche Kopien, Repliken, Fälschungen von Kunstwerken umgeben.
2015 wiederholte Christian Boltanski mit Hans-Ulrich Obrist und Chiara Parisi in der Pariser „Monnaie“ ein Projekt, das er 1994 in der Londoner Serpentine Gallery ausprobiert hatte: „Take me, I´m Yours“ – eine Ausstellung über Wechseln und Teilen von Kunstwerken, zu dem er 2 Dutzend Künstler einlud – Gilbert & George, Franz West, Lawrence Weiner, Hans Peter Feldmann, Pawel Althamer, Gloria Friedmann, Yoko Ono u.a.
Sie alle boten Werke zum Tausch, zur Ausleihe, ersetzten Werke, die den Besitzer in einer Tombola wechselten – La Monnaie, die alte Münze, diente jetzt nicht mehr der Verteilung von Geld, sondern von Kunst. Ein Hund an der Leine wurde stundenweise ausgeliehen, um ausgeführt zu werden. Der Ruf nach Originalen, Unikaten, signierten und nummerierten Objekten wurde erstickt. Angesichts des sich selbst inflationierenden Kunstmarkts und der Müdigkeit, die die Kunstszene durchzieht, erscheint der Schlachtruf NIMM MICH ICH GEHÖRE DIR angemessen.