M Y S T E R Y P H O T O S – G E O F F R E Y H E N D R I C K S
Die digitale Fotografie muss neue Anwendungen (apps) erfinden, um Doppelbelichtungen, Entwicklungen von Filmenden und ähnliche Fehler zu erreichen, die analog zu geheimnisvollen Porträts, Landschaften oder abstrakten Kompositionen führten. Aber solche Fotos meinte der norwegische Fluxus-Künstler Geoffrey Hendricks nicht. Er ahnte, dass nicht nur die Welt in einen unheilvollen Fluss geraten war, sondern die Wahrnehmung dieser Welt selbst so, als hätten alle Menschen die Brille abgenommen und sähen die Wirklichkeit unscharf, gleitend, schwimmend. Er suchte solche Fotos selbst zu machen oder zu finden, suchte sie zu verstehen und fügte ihnen Gegenstände (einen Blumenstrauß, einen Ast) hinzu, um die Bilder greifbar zu machen, um sie ertasten zu können. Er ahnte, dass Priester auf dem Floß in Büchern lasen, dass zwei Menschen sich inmitten eines Trümmerhaufens unterhielten, und er hielt diese Bilder für so sehenswert, dass er sie multiplizierte, die Applikationen geduldig jedem anheftete und sie als Postkarten verschickte. Die Postkarten des Geoffrey Hendricks wurden in der internationalen Kunstszene bekannt. Er nannte sie MYSTERY PHOTOS. Ich begann, sie zu sammeln.
Als er sich von seiner Frau getrennt hatte, um mit Stephen Varble zu leben, bot er mir an, eine Hälfte seines Haushaltes, seine Hälfte, die ihm nach der Scheidung geblieben war, auszustellen: ein halbiertes Ehebett, halbiert ein Kleiderschrank, eine Zahnpastatube, Tassen, Teller, Kochtöpfe, Haarbürsten – ein ergreifendes Sammelsurium in einer Vitrine – und er trat in einer Performance im Ballsaal des Alten Kurhauses auf, saß in schwarzem Smoking drei Stunden auf einem Haufen schwarzer Erde, las aus einem Buch seines Fluxus-Freundes Dick Higgins und beachtete nicht, dass sich immer schneller etwa 30 weiße Mäuse aus seinen Kleidern befreiten und über den Marmorboden des Ballsaales flüchteten. Varble tanzte langsam in einem Talar aus 100 aneinandergehefteten Holzstücken, die leise klickten, um ihn herum. Geoffrey Hendricks war ein Meister der MYSTERIES.
Er gehörte zu den Poeten, die die FLUXUS-Bewegung aus New York nach Deutschland gebracht hatten: George Maciunas in Wiesbaden, George Brecht in Köln und Hendricks hier. Sie gewannen Freunde, Sammler, die heute die Schätze verwalten: Schachteln, mit kleinen Objekten und Texten gefüllt, Dosen, Hefte in ungewöhnlichen Formaten – kurzum: Kunstwerke, die nicht Unikate, Originale sein wollten, nicht gut gemalte Bilder oder modellierte Skulpturen, nicht wertvolle, teure Gegenstände, sondern irritierende Botschaften – MYSTERIES.