VAN GOGH AM CHINESISCHEN Meer
Im April 1996 schickte mir der Kulturattaché der Rotchinesischen Botschaft in Bonn-Bad Godesberg einen freundlichen Brief und ein 120 x 120 cm großes Bild des Malers Li Hong Tao, das ich zuvor im Pekinger Atelier des Künstlers bewundert hatte. Scherzhaft hatten wir ihm nach einer langen Unterhaltung über die Begegnungen von asiatischer und europäischer Malerei den Titel „Van Gogh am Ufer des Chinesischen Meeres“ gegeben. Ich habe den hoch gewachsenen Mann bewundert. Der Dolmetscher stellte ihn mir als einen Heilkundigen vor, der in den Augen innere Krankheiten diagnostiziert. Besucher im Pekinger Museum Ludwig fragten wissbegierig nach Techniken: Leinwand, Öl, Acryl, Linolschnitt waren dort unvertraute Elemente, wo über Jahrtausende mit Tuschen auf Papier gemalt worden war. Aber erst Sun Yat sen, der Präsident der 1. Chinesischen Republik hatte Ölmalerei auf Leinwand sanktioniert, und so malte Tao Li Hong – ein abstrakter Expressionist – auf den Spuren von Jackson Pollock!
Die dünne Leinwand ist über einen gezimmerten Holzrahmen gespannt und ungrundiert, so dass die Farbe in Flecken durchschlägt. Pinselzüge sind weniger zu erkennen als Spritzer und Kleckse – so wie die in den „10.000 hässlichen Tuscheklecksen“ von 1685 des berühmten Landschaftsmalers Shitao. Tao Li hat 1986 „gekleckst“: in hellen, heiteren Farben sparsam zuerst auf die Leinwand, die sichtbar bleibt; darüber schiebt sich eine kräftige blaue Front von links oben so dramatisch gegen ein Gestrüpp von dunklen, muskulösen Balken, als bliese ein Orkan diagonal durch das Bild. Dicke Tropfen schwarzer Farbe sind mittlerweile getrocknet und liegen geknittert auf dem Tuch.
Das Bild hängt in meinem Zimmer. Li hat nie angedeutet, dass das Geschenk mich verpflichte, ihm eine Ausstellung zu organisieren, so habe ich es nicht zurückgeschickt, und wir haben uns aus den Augen verloren. Es ist eines der Elemente, die meine Liebe zur chinesischen Kunst und Kultur zusammensetzen.