K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 8. 2. 1975
D E R B L A U E R E I T E R
München war 1910 eine blühende Kunstmetropole, die Stadt des Jugendstils (nach der Zeitschrift „Die Jugend“). Er zeigte sich in der Architektur, dem Kunstgewerbe, der Illustrations- und Gebrauchsgrafik, und seine florale Ornamentik bot Bilder, in denen die Gegenstände, die darzustellen waren, unter dem Dekor zu verschwinden drohten. Das verselbstständigte Ornament konnte als Klang, als Melodie gelesen werden, in die der Betrachter einstimmte.
Die Russen Wassili Kandinsky, Alexej Jawlensky und Marianne Werefkin studierten und arbeiteten hier seit 1896, der Schweizer Paul Klee und der Böhme Alfred Kubin seit1898, Franz Marc lernten sie in der Kunstakademie kennen. Auf Marc und Kandinsky blieb die Ästhetik des Jugendstils nicht ohne Wirkung. Der eine entwickelte seine Vorstellung von einer „mystisch innerlichen Konstruktion“ der Bilder, der andere eine symbolistische Farbtheorie. 1909 organisierten sie die 1. Ausstellung der „Neuen Künstlervereinigung“ mit Werken von Kandinsky, Werefkin, Jawlensky, Kubin, Gabriele Münter, Adolf Erbslöh, Carl Hofer, Alexander Kanoldt. 1910 öffneten sie sich den Franzosen: eine Einzelausstellung von Henri Matisse und eine 2. Gruppenausstellung der Pariser „Fauves“ André Derain, Maurice Vlaminck, Georges Rouault, Kees van Dongen und Kubisten Georges Braque und Pablo Picasso. Kandinsky hatte bis dahin in stark farbigen, locker gemalten Bildern die russische Folklore verarbeitet (er hatte mit ethnologischen Interessen den Ural bereist), und auch Marianne Werefkin und Alexander Jawlensky folgten Anregungen des russischen Kunstgewerbes und der Textilkunst, ermutigt durch den befreienden Einfluss der französischen „Fauves“. Kandinsky begann 1909 mit „Kompositionen“ und „Improvisationen“ und erreichte 1910 einen Grad der Lösung von Gegenständen erreicht, der ihm den Ruf einbrachte, das 1, abstrakte Bild gemalt zu haben. 1912 verließ er mit Münter, Marc, Kubin und Jawlensky die Neue Künstlervereinigung, um in der Galerie Thannhauser den „Blauen Reiter“ zu präsentieren, eine Ausstellung, die ein Almanach mit dem gleichen Namen und Kandinskys Buch „Über das Geistige in der Kunst“ begleitete. Sie wurde in mehreren deutschen Städten gezeigt. Kandinsky und Marc verschlossen sich der politischen Epoche, in der sie lebten: den Vorboten der. russischen Revolution und des 1. Weltkrieges. „Es gibt keine soziologische oder physiologische Deutung der Kunst. Ihr Wirken ist durchaus metaphysisch.“ schrieb Marc. Anders als die Expressionisten der Dresdener „Brücke“ verharrte die Münchener Gruppe in einem romantischen Idealismus, der den neuen Menschen in einem verklärten Kosmos ersehnt. Marc, der dieser Utopie in Landschafts- und Tierbildern am reinsten Ausdruck gab, starb im Krieg. Der „Baue Reiter“ löste sich auf, Herwarth Waldens „Der Sturm“ wurde zum Sammelpunkt der Bewegung in Deutschland.
Abb,.Wassili Kandinsky „Das bunte Leben“ 1907 Lenbach-Haus München