K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 13. 3. 1976
H E N R Y M O O R E
Als er 1948 den internationalen Bildhauerpreis der Biennale von Venedig erhielt, stand er auf dem Höhepunkt einer langsamen, stetigen Selbstfindung. Als er 1972 dem Forte di Belvedere hoch über Florenz eine große Ausstellung schenkte, überblickte er sein Lebenswerk – über der Stadt des Bildhauers, dem er Vieles verdankte: Michelangelo Buonarroti. Der englische Bildhauer setzte sich zeitlebens mit der Skulptur der griechisch-römischen Antike und der italienischen Renaissance auseinander, so sehr er sich von ihrem Menschenbild entfernte. 1972 war sein Oeuvre selbst schon klassisch geworden; die mächtigen Marmor-, Bronze- und Holzskulpturen verband nichts mit den Ready-Mades, technologischen Konstruktionen und Environments seiner Zeitgenossen. Jüngere entdecken ihn wieder mit einem Blick auf die Skulpturen der Vorgeschichte.
Seine Laufbahn begann Moore mit den beiden bedeutenden Bildhauern Barbara Hepworth und Ben Nicholson in den 20er Jahren. Sie studierten die post-kubistischen Skulpturen von Brancusi und die konstruktivistischen Arbeiten der Russen – Naum Gabo – und des Bauhauses. Sie suchten, sich von Einflüssen der Pariser Surrealisten zu befreien, die ihnen Vorstellungen von unbewussten Bildern und Archetypen vermittelten. 1934 schreibt Moore: „Es gibt allgemeine formale Grundvorstellungen, von denen sich jeder unbewusst mitbedingt fühlt und auf die er zustimmend reagiert, wenn der kontrollierende Verstand ihn nicht davon abhält.“ Sie untersuchten prähistorische Funde und Denkmäler ebenso wie Skulpturen Afrikas, Südamerikas und Ozeaniens. Sie sammelten Kiesel, Hölzer und Knochen, Gelegenheitsfunde, die die Natur als Künstlerin ausweisen. Dem Heiligtum in Stonehenge hat Moore ebenso eine Grafikserie gewidmet wie einem großen Elefantenschädel. „Zwischen der >Schönheit des Ausdrucks und der Kraft des Ausdrucks bestehen funktionelle Unterschiede. Die erste wendet sich an die Sinne, die 2. Hat eine geistige Spannkraft, die mir mehr bedeutet und die tiefer dringt als sinnliche Schönheit.“ Dieser Ehrgeiz, tiefer zu dringen, hat seine Arbeit bestimmt. Ihm genügte, mit wenigen Materialien und wenigen bedeutenden Formen zu arbeiten: ein liegender Akt, eine Mutter mit Kind, Familie, Helm, Krieger – wesentliche Motive in der Geschichte der europäischen Skulptur. In ihr hat Moore eine Heimat gefunden.
Abb. Wirbel 1968/ 69 Münster