K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 1976
A L B E R T O G I A C O M E T T I
An einige Bildhauer des 20. Jahrhunderts erinnern wir uns wie an Einsiedler, die eine besondere Aura umgibt – an den Rumänen Brancusi und den Schweizer Giacometti (1901-66), die beide den größten Teil ihres Lebens mitten in der Großstadt Paris, umgeben von wenigen Freunden arbeiteten. Als Giacometti 1962 den Großen Preis der Biennale von Venedig gewann, erinnerte man sich, dass die „Existentialisten“ Jean Genet und Jean Paul Sartre zu seinem Freunden gehörten. Heute sind seine zerbrechlichen, überdehnten Bronzen von stehenden, gehenden Einzelfiguren und Gruppen und die gezeichneten, gemalten strengen Porträts von Menschen, die starr frontal in einem skizzierten Innenraum sitzen, weithin bekannt.
Als er 1922 nach Paris zog, lernte er die Folgen des Kubismus, Picasso als Plastiker und den Bildhauer Brancusi kennen, verkehrte im Kreis der Surrealisten und folgte in 1. Skulpturen Anregungen afrikanischer Masken und Fetische. In den 30er Jahren entstehen kleine offene Käfige, in denen traumhaft symbolische Gegenstände hängen. Nicht das Handwerk der Skulptur interessiert ihn, sondern der immaterielle Kern, das Geheimnis, die Strahlung des Unsichtbaren. So nähert er sich dem Kern, wie man eine Zwiebel schält, bis ihm eine überdehnte, hieratische schmale Figur auf stelzenhaften Beinen mit zartem Kopf gelingt – keine Rundplastik, sondern frontal dem Betrachter zugewendet. Er stellt die ersten auf übergroße Sockel, die wie bei Brancusi einen Eigenwert gewinnen, und schafft so Distanz, als betrachteten wir die Figur aus der Ferne. Sie beansprucht geringe plastische Präsenz, ist nahezu durchsichtig und vermittelt mit dem frontalen Blick aus der konstruierten Distanz die Botschaft eines existentiellen Geheimnisses. Dieses Geheimnis, das Unsichtbare, das am Rand der Wirklichkeit lauert, haben alle Surrealisten darzustellen versucht. Sie verwendeten Perspektiven ins Unendliche, Verrätselungen, Wort-Bild-Kombinationen, literarische Allusionen. Giacometti ist der einzige dieser Generation, der ohne alle Bezüge auskommt. Seine Zeichnungen hängen eng mit den Bronzen zusammen. Er kommt mit den gedeckten Braun- und Grautönen des Kubismus aus und gewinnt die suggestive Kraft der Gesichter durch eine Methode des langandauernden kleinteiligen „Kritzelns“, in dessen Verlauf die Züge hervortreten. Die unregelmäßige, „gekritzelte“ Oberfläche der Bilder und der Skulpturen nimmt ihnen zugleich ihre materielle Wirklichkeit. Sie ziehen sich in eine andere Welt zurück, ieine Welt der Toten, eine andere Zivilisation. Die Modelle, die diese Erinnerungen tragen, sind seine Mutter, seine Frau und sein Bruder. Sich selbst hat Giacometti als Versager empfunden, seine hinterlassenen Schriften enthalten seine Selbstzweifel: „Ich bin nur glücklich, wenn ich versuche, das Unmögliche zu tun und wenn es sehr schlecht vorangeht…Sobald es leichter und besser geht, interessiert es mich überhaupt nicht mehr.“
Abb. L´Homme qui marche (Mann, der geht) I 1960 Sammlung Stiftung Giacometti, Paris