K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 14. 12. 1974
P I T T U R A M E T A P H Y S I C A – G I O R G I O D E C H I R I C O
Die “metaphysische Immanenz der Dinge“ (Wilhelm Worringer) zu suchen, war erklärtes Ziel einiger Realisten unter den deutschen Malern der 20er Jahre. Ihre Vorbilder waren die Italiener Giorgio de Chirico und Carla Carrà, die „pittura metaphysica“. De Chirico seinerseits berief sich auf den berühmten Münchener Arnold Böcklin, den Maler der „Toteninsel“ und die deutsche Romantik. „Romantisieren bedeutet, dem Gewöhnlichen einen höheren Sinn, dem Alltäglichen den Anschein des Mysteriums, dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Endlichen die Züge des Unendlichen zu verleihen.“ Dieser schöne Satz des Novalis, des Romantikers par excellence, gilt als Programm für de Chririco wie für die „Magischen Realisten“ und am Ende auch für die Surrealisten.
De Chirico malte die „Piazze“, die geometrisch geordneten Plätze im Zentrum der norditalienischen Großstadt Turin, er hatte die Beschreibungen von Friedrich Nietzsche gelesen, der Turin anderen italienischen Städten vorzog. Die zarte klassizistische „Abschiedsstimmung“, die verhaltene Angst, die „vereiste“ Verzweiflung in den Bildern verraten ebenso die apokalyptische Stimmung vor dem Beginn des 1. Weltkrieges wie der Angstschrei und die „Menscheitsdämmerung“ der deutschen expressionistischen Dichter. Aber ihr Pathos fand weniger Widerhall bei den Realisten und Surrealisten der 20er Jahre als die sehnsüchtige Melancholie des Italieners.
De Chrico hatte während des Krieges in Ferrara gearbeitet und 1917 beim „Romantisieren“ in großen Architekturbildern mit Carrà die „metaphysische Puppe“ entwickelt, einen „maniquino“, wie er in Kunstakademien und bei Schneidern als bewegliche Holzfigur bekannt ist. Er ist eine romantische Figur, E. T. A. Hoffmann und Jacques Offenbach haben der Olympia des Konstrukteurs Spalanzani ein unvergessliches Denkmal geschaffen, und de Chirico mochte die aus Teilen zusammengefügte Figur als Alternative zu den demontierten Gestalten der Kubisten und Futuristen begreifen, als einen „maschinalen“ Menschen der modernen Großstadt, eine Denkfigur, der der Betrachter mit Distanz begegnen kann. Denn der Maniquino hat einen geringen, unscharfen Symbolwert und lässt viele Assoziationen zu. Die Puppe – von der Schaufensterrequisite bis zum Spielzeug) – hat die Surrealisten Hans Bellmer und Salvador Dali häufig beschäftigt.
De Chrico ist um 1920 dem Druck erlegen, ständig der Avantgarde anzugehören, und hat fortan Bilder geschaffen, die sich um die Illusion bemühen, im italienischen 17. Jahrhundert, im Barock, entstanden zu sein. Die Werke, die zwischen 1910 und 1920 entstanden sind und bis heute gefeiert werden, hat er zeitweise verleugnet.
Abb. Giorgio de Chirico 1914