K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 17. 1. 1976
Über die zeitgenössische Kunst in diesem großen Nachbarland ist wenig bekannt. Sogar die Kunstzeitschrift „tendenzen“ der DDR hat russischen Künstlern wenig Platz eingeräumt. Die Medien berichteten von improvisierten open-air-Ausstellungen unabhängiger Künstler, die von Dampfwalzen beseitigt wurden, von Privatsammlern, die mit ihren Sammlungen ausgebürgert wurden, von widerständigen Malern wie Rjabin und Bildhauern wie Neiswestny. Die Medien berichten aus Moskau und Leningrad, aber nicht aus Nischni-Nowgorod, Samarkand oder Wladiwostok. Von einem lebendigen Kunstmarkt ist ebenso wenig bekannt wie von einer Fachpresse und Kunstkritik. Wird die europäische Kunstgeschichte, an der die russischen Metropolen der Vergangenheit beteiligt waren, nicht fortgeschrieben?
In Moskau haben kaum weniger Künstler als in Paris die Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts bestimmt: Malewitsch, Tatlin, Rodschenko, Lissitzki, Pevsner, Gabo, Kandinsky, Jawlensky, Chagall, de Stael, Poliakoff, zu schweigen von Musik, Literatur, Theater und Film. Der kulturelle Aufbruch des Landes war größer und radikaler als der Amerikas in den 50er Jahren. In aller Härte haben diese Künstler den Konflikt zwischen offenen internationalen, kosmopolitischen Leitbildern und den geschlossenen Leitbildern der Slawophilen, der „Russen“ausgetragen, die in der Folge die Kulturen der „Sowjetvölker“ zu integrierten versuchten. Der Konflikt reicht in das 19. Jahrhundert zurück, als sich um 1870 die Peredwischniki, die „Wanderer“ (die ihre Bilder in Wanderausstellungen zeigten) gegen die Moskauer Akademie der Künste ausrichteten. Die Kunsthalle Baden-Baden hat ihnen 1972 eine umfassende Ausstellung gewidmet, die zeigte, mit welcher Leidenschaft sie die Formlehren der westeuropäischen Akademien verarbeitet und mit eigenen Inhalten gefüllt haben. Den „Russen“, die in ihren Bildern heimatlichen Leitbildern folgen (Landschaften, Datschas, Haustiere), begegnet man bis heute.
Seit der Oktoberrevolution 1917 ist es nicht gelungen, die gesellschaftliche Orientierung und Einbindung des Künstlers anders zu definieren als durch oberflächliche, rückhaltlose Indienstnahme. Das Dilemma der Kosmopoliten wie der Slawophilen besteht in der Zielgruppe, den Arbeitern und Bauern, an die sie sich gemäß der marxistisch-leninistischen Ideologie zu richten angehalten waren. Der Bildungsstand der Zielgruppe lässt eine Verständigung nicht zu. Würde man den Bildungsstand der Künstler einfrieren, bis die Bevölkerung sie erreicht, so würde ein gemeinsamer Neubeginn mit Bildvokabeln durchgeführt werden, die in der übrigen Welt niemand versteht.
Abb. Marc Chagall Regen 1911 87 x 108cm Stiftung Peggy Guggenheim Venedig