K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 1977
E A D W E A R D M U Y B R D G E
Amerikaner nehmen nicht erst seit dem 2. Weltkrieg an der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts teil. Aber Eadweard Muybridge, ein kalifornischer Fotograf, hat lange vorher ein wichtiges Kapitel in ihr geschrieben. Er gewann 1873 einen reichen Freund und Pferdenarren, beweisen zu können, dass ein schnell trabendes Pferd sich in bestimmten Phasen mit allen 4 Beinen vom Boden löst. Er installierte quer zur Rennbahn in Palo Alto 12 Plattenkameras mit stereoskopischen Linsen in Abständen von 1 m und ließ sich elektromagnetische Schnellverschlüsse konstruieren. 1876 galoppierte das Pferd Abe Degington an den 12 Kameras vorbei, zerriss 12 Kontaktschnüre am Boden, löste die Verschlüsse – es schwebte. Maler wie Géricault hatten in Darstellungen von Pferderennen schon solche Momente gemalt, aber jedermann hielt sie für ihre Erfindungen. Muybridge setzte die Fotos in schematische Zeichnungen um, publizierte sie und entwickelte diese Chronofotografie zu Aufnahmen von Menschen, Elefanten und anderen Tieren. Solche Bilder spiegelten die Epoche der dynamischen Gründerzeit: montierte man sie in einem Kreisel, so liefen die Modelle. Phenakistoskope, Zoetrope, Zoopraxiscope hießen die Geräte, ein beliebtes Spielzeug der Zeit. 1895 entwickelte Thomas Edison daraus das Vitascope, das „Kino“. Die Fotos von Muybridge wurden nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa bekannt, begeisterten Kubisten und Futuristen, den jungen Duchamp („Akt eine Treppe hinabsteigend“). Seit 1970 interessieren sich Künstler wieder für Muybridges Studien, weil sie in ihrer wissenschaftlichen Objektivität sichtbar machen, welchen gesetzlichen Zwängen Tiere und Menschen unterworfen sind.
Abb. Aus dem Film von Thom Anderson „Eadweard Muybridge Zoopraxographer“1975