K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 6.7.1974
Marcel Duchamp starb 81-jährig 1968. 9 Jahre lang konnte er noch miterleben, wie ihn Künstler, Kritiker, Museen der pop-Generation als wichtigsten Anreger der 1. Jahrhunderthälfte entdeckten. Im Museum von Philadelphia vollendete er sein komplexes Spätwerk „Étant donnés; 1. La chute d´eau 2. Le gaz d´éclairage“ (Vorgegeben: 1. Der Wasserfall 2. Die Gasbeleuchtung). 15 Jahre lang sollte es nicht fotografiert und reproduziert werden. Das ist auch kaum möglich, denn nur 2 kleine Gucklöcher in einer rustikalen Tür, dahinter ein Loch in einer Ziegelmauer geben den Blick frei auf einen merkwürdig gefärbten liegenden weiblichen Akt mit ausgebreiteten Beine auf einem Lager aus Zweigen und toten Blättern vor einem gemalten Wasserfall und Waldsee, der eine altmodische Gaslampe emporhält. Eine Konstruktion lässt die Kaskade fließen.
Wer nicht durch die Löcher geschaut hat, das Werk nur aus Berichten kennt, ermisst den Grad der Diskretion, der Duchamp sein Leben lang auszeichnete: Öffentlichkeit vermeiden, sich entziehen, Aussagen verschlüsseln – Beuys prägte den Satz: Das Schweigen Duchamps wird überbewertet) – ein elitärer mystificateur. Er begann aber turbulent: in der New Yorker Armory Show 1913, in der die neuen Franzosen, die Fauves und Kubisten zum 1. Mal in Amerika auftraten, erregte sein kubistisch-futuristischer „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ großes Aufsehen. „Explosion in einer Schindelfabrik“ nannte es die Presse. Aber schon die „ready-mades“, vorgefundene Gegenstände aus industrieller Produktion – Fahrradrad, Flaschentrockner, Schneeschaufel, Kamm, die Haube einer Schreibmaschine – irritierten – und dann 1917 die Skulptur „Fountain“, ein auf den Kopf gestelltes weißes Keramik-Pissoir, zurückgewiesen von der Jury einer Vereinigung unabhängiger Künstler und ausgestellt im Schaufenster der Galerie 291 des Fotografen Alfred Stieglitz. Duchamp wurde vollends zum Bilderstürmer, als er 1919 auf einer Postkarte die Mona Lisa von Leonardo da Vinci – zu dessen 400. Todesjahr – mit einem Schnurr- und einem Spitzbart versah und darunter die Buchstaben L.H.O.O.Q: setzte (phonetisch: elle a chaud au cul – sie hat einen heißen Hintern) – ein „ready made rectifié“ – ein korrigiertes ready made.
Zweifel an überkommenen kulturellen Werten und rebellische Gesten gegen traditionelle Werke der Bildkunst, der Musik, der Literatur fanden damals überall in Europa – bis nach St. Petersburg und Moskau – Anhänger und sympathisierende Gruppe. Duchamp gehörte zu denen, die DADA von Paris nach New York transportierten. Keiner hat wie er den Zweifel an der KUNST, ihrem Prestige-Wert, ihrer „Aura“ zum Inhalt eines Lebenswerkes gemacht. Er verachtete die „retinale“, die Netzhaut-Kunst, nannte ihre Väter: Courbet und Cézanne. Sie wende sich über die Augen an die Sinne, aber es sei nötig, „die Kunst wieder in den Dienst des Geistes zu setzen“. „Wie kann ich erreichen, dass das Kunstwerk hinter der Netzhaut des Betrachters in seinem Geist entsteht?“ Duchamp begann, für die immaterielle Kunst eigene Vokabeln zu entwickeln, z.B. „infra-mince“ – infradünn – an der Grenze des Wahrnehmbaren: der Unterschied zwischen einem Raum, den ein sauberes gebügeltes Hemd und dem, den das Hemd schmutzig und abgelegt, einnimmt; oder das Geräusch fallender Tränen oder das Ausatmen von Tabakrauch. Die Frage „Kann man ein Werk herstellen, das nicht ein Kunstwerk ist?“ beantwortete er, indem er seine motorengetriebene „Motoreliefs“ in einer Pariser Erfindermesse ausstellte (Sie wurden nicht beachtet). Und er spielte leidenschaftlich Schach: „Ein Schachspiel ist sehr plastisch…mit Schach schafft man schöne Probleme, und diese Schönheit ist mit dem Kopf … gemacht“.
Sein Hauptwerk der Frühzeit (1915-23) ist „La mariée mise à nu par ses célibataires, même“ (etwa. Die Braut, entkleidet von ihren Junggesellen, sogar) ist eine 278×176 cm große Glasscheibe, bedeckt mit Öl, Lack, Bleifolie und -draht, Staub und 2 zerbrochenen Glasscheiben – eine große verschlüsselte, zarte, durchsichtige Zeichnung, „infra-mince“ – wie das Bild, das sich hinter der Netzhaut des Betrachters formt – ein transparentes Objekt im Raum, das zahlreiche Forscher gültig zu interpretieren versucht haben.
Einen großen Teil seiner Bildideen hat Duchamp in multiplizierten Boxen und Koffern gesammelt und herausgegeben, um Unikate und Autoren in Frage zu stellen. Als Andy Warhol Pappkartons der Firma Brillo signierte und Campbell-Tomatensuppendosen, den Kopf einer Kuh oder den der Marilyn Monroe in Siebdrucken verarbeitete, als Jasper Johns Bierdosen in Bronze goss, setzten sie die Arbeit an „ready mades“ fort. Die Konzeptkünstler, die künstlerische Botschaften auf gesprochene und geschriebene Worte reduzierten, radikalisierten die „Dematerialisation“ der Kunst in Duchamps Sinn.
Sein Oeuvre hat auch die Kunstvermittlung bis jetzt in Verwirrungen gestürzt. Den Flaschentrockner, den er zum Kunstwerk machte, kann man noch heute in Pariser Kaufhäusern kaufen. Duchamps Exemplar ist verloren gegangen. Nicht das Objekt, sondern die Geste, es auszuwählen und in den Kontext der Kunst zu stellen, ist das Kunstwerk. Die Arbeiten, an die er Hand gelegt hat, sind im Philadelphia Museum zusammengetragen. Alle anderen sind Auflagenobjekt, Ableitungen und vom Kunstmarkt geschaffene Materialisierungen einer künstlerischen Idee. Duchamp original ist unverkäuflich.
Abb. Duchamp Network of Stoppages 1914 NY MOMA (Netzwerk von „stillgestellten“, gemalten Schnüren in der Länge des Pariser Urmeters)