K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AV Z 1974
I N F O R M E L
„40 Meisterwerke, jedes zerschmetternder, aufwühlender, blutiger als das andere. Ein Ereignis, ohne Zweifel das wichtigste seit den Werken Van Goghs…“ so schreibt der Maler Georges Mathieu von der 1. Ausstellung des Deutsch-Franzosen Wolfgang Schultze, Wols, in Paris. Er gehörte zum Kreis um Jean Dubuffet und Jean Fautrier die seit 1945 in der Galerie von René Drouin ausstellten. Sie malten „informel“, übersetzt formlos, d.h. sie schufen keine Bilder, die sie erdacht hatten, sondern bemühten sich, ihr Unterbewusstsein auf Leinwände zu projizieren – automatsch, der „écriture automatique“ der Vorkriegs-Surrealisten verpflichtet. Sie hatten die ersten Ansätze zu einer gestuellen, von der Gebärde des Malens abhängigen Malerei. Diese Erbschaft beschäftigte die Maler des Informel stärker als jene von Sigmund Freud inspirierte Recherche in Traumdeutungen, die den Kreis um André Breton bewegte. Auf der Suche nach einer Bild- und Schriftsprache des Unterbewusstseins und des Irrationalen entdeckten sie die europäischen und außereuropäischen „Naiven“, „Primitiven“, die Süchtigen und Geisteskranken. Wols ist die zentrale Figur dieser Bewegung, weil ihn allzu offensichtliche Verarbeitungen solcher Anregungen nicht interessierten – anders als Dubuffet, der eine eigene Sammlung von naiver und pathologischer Kunst zusammentrug und das begründete, was wir heute art brut nennen. Wols fand die Irritationen, den Rausch, die Selbstentäußerungen in sich selbst, er begriff sie „existentialistisch“ (mit ihm begann die französische Philosophie des Existentialismus). Sein Entschluss zu einer Methode „psychogrammatikalischer“ Malerei entstand 1945 in einem französischen Internierungslager, das ihn mit Max Ernst zusammenbrachte.
Wols, Fautrier und Dubuffet haben eine gestuelle Schreibweise entwickelt. Die Methode führte sie dazu, das Tafelbild selbst in Frage zu stellen; das Unterbewusstsein würde sich nicht auf ein beschränktes Rechteck beschränken lassen. Jackson Pollock hat in New York gleichsam psychotherapeutisch den Schritt vollzogen, Leinwände auf dem Boden des Ateliers „grenzenlos“ zu „beschreiben“. Das informel ist so weit nicht gegangen und mündete in die „école de Paris“, eine umfangreiche Schule von Malern, die – zeitgemäß – die dunkle Seite der menschlichen Existenz hinter leuchtenden, farbfrohen abstrakten Tafelbildern verbargen.
Abb. Jean Dubuffet Le voyageur égaré Der verwiurrte Reisende 1950 Basel Fondation Beyeler