Beckeraachen

Kunstwechsel

Story Art

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K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.

Kunst ABC   AVZ 1977

S T O R Y   A R T

History heißt Geschichte, Story ist eine Geschichte. Story Art hieß eine Ausstellung des New Yorker Galeristen John Gibson im April 1975: mehrere Künstler erzählten mit hand- und maschinengeschriebenen Texten und unprätentiösen fotografischen Schnappschüssen Geschichten. Gibson korrigierte später die Bezeichnung Story Art in Narrative Art, also Erzählkunst. Eine Kunst, die in Wort und Bild Geschichten, Zeitfolgen von Ereignissen wiedergibt, haben schon die Ägypter an den Wänden ihrer Tempel und auf Papyri gepflegt, sie begegnet uns in den Handschriften und Kirchenfenstern des europäischen Mittelalters, In Bilderbüchern und -bogen, Comics und Fotoromanen der Neuzeit. Anders als die reine Bildkunst und die bilderlose Literatur hat die Wort-Bild-Kunst über die Jahrhundertr auf die Mehrheit der Menschen gezielt, denen Kenntnisse fehlten, um Bilder und Bücher zu lesen.  Texter und Zeichner waren nicht immer die gleichen Personen, zuweilen standen die einen im Dienst der anderen. Wilhelm Busch war beides zugleich, und bei ihm ist nicht leicht herauszufinden, ob Text oder Bild zuerst da waren. Fotoromane nutzen Fotos aus Filmen seit den 40er Jahren. In ihnen ist die Bindung der Bilder an die Texte gelockert – etwa so wie in der Werbung, wo die Bildinhalte die Textinhalte nicht illustrieren, sondern begleiten. Story Art kann ebenso Fotos aus Filmen und Videos enthalten.  Sie ist nicht Visuelle Poesie. Dort bemühen sich Literaten wie Künstler um den Buchstaben als Zeichen, um Schrift als Kompositionselement, um eine Amalgamierung von verbaler Information in einer Gestalt, die der Bilderrahmen oder der Satzspiegel einfassen. Hier erzählen ausschließlich Bildkünstler, die bildkünstlerischer Gestaltung entsagen, keine „Kunst“ machen wollen. Sie sind als Anti-Künstler bescheiden: sie ersetzen zerstörerische Gesten durch scheinbar banale, liebenswürdige, skurrile, hintersinnige Erzählungen. Sie sind Wölfe im Schafsfell des Biedermanns – wie die Fotorealisten, die Autos und andere allzu bekannte Alltagsgegenstände perfekt in Acryl auf Leinwänden wiedergeben. Ihre anspruchsvolle Lässigkeit zeichnet sie aus. John Baldessari zeigt in 2 Fotos einen alten Bleistift, einmal stumpf, einmal gespitzt, und setzt in geschriebenen Druckbuchstaben darunter: „Lange Zeit lag dieser Bleistift auf dem Armaturenbrett meines Wagens. Immer, wenn ich ihn sah, fühlte ich mich unbehaglich, weil seine Spitze so stumpf und dreckig war. Ich wollte ihn immer anspitzen, am Ende konnte ich es nicht mehr ertragen und spitzte ihn an. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube: das hat etwas mit Kunst zu tun.“ Dieses friedfertige Stück „Kunst“ transportiert einen großen Zweifel an „Kunst“, eine souveräne Skepsis des Künstlers an ihrer Bedeutung und Wirksamkeit – und Scham, sich so bedeutungsloser Kunstformen zu bedienen. Story Art nimmt den ehrgeizigen Anspruch der Concept Art zurück: „Ideen, für sich genommen, können Kunstwerke sein“ (Sol Lewitt 1969). Sie ist dessen nicht sicher, besser wäre, beim Punkt Null wieder anzufangen. Story Art ist wie alle Gruppenstile seit den 50er Jahren amerikanisch: Zweifel und Unsicherheit sind Folgen der geografischen Distanz zur europäischen Kunstgeschichte. Sie wendet sich ab von Ideen und Konzepten, sucht den „Blick aus dem Fenster im Hinterhof“ (Didier Bay), das Fotoalbum, die Hierarchie der Großfamilie (Roger Welsh), den Unfall im Haushalt (William Wegman), Kindheitserinnerungen (Christian Boltanski). Story Art wird von vielen verstanden, weil sie von ihnen erzählt.

Abb. John Baldessari  Wrong 1967 (aus einem Fotolehrbuch)

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