K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen redigiere ich jetzt, um auf mich und eine andere Epoche der Kunst- und Weltgeschichte zurückzuschauen.
Kunst ABC AVZ 13.10.1973
M I N I M A L A R T
Minimal Art ist nicht die kleinste, aber einfachste aller Kunstformen so, dass eines ihrer Werke als Kunstwerk nicht erkennbar ist. Es sprengt unsere Gewohnheiten.
Wer 1971 den Park von Sonsbeek (Arnhem, NL) betrat, stand plötzlich dicht vor einer schwarzen Wand, 12 m hoch, 5 m breit, das Ende einer 25 m langen ansteigenden Rampe. Er stolperte über eine 10 cm hohe, senkrecht aus dem Boden ragende Eisenplatte, 3 m lang. Ihre schrägen Enden wiesen nach unten: sie war ein gleichseitiges Dreieck, das tief in die Erde gesenkt war. Die mächtige Rampe von Ronald Bladen überwältigte, das verborgene Dreieck von Robert Grosvenor provozierte. In der Kasseler documenta 1972 ließ Richard Serra 4 Eisenplatten – je 685 x 243 x 222 cm – in einem quadratischen Raum so aufstellen, dass nur die Mauerecken sie hielten. Die einfache stereometrische Form erschien allen gefährlich.
Die psychologische Wirkung eines Steins wächst mit der Wasserfläche, deren Ruhe er stört. Nicht nur psychologische, sondern auch ästhetische Kategorien lassen sich dehnen, zerdehnen. Jo Baer verdünnt eine rote Rahmenleiste um ein weißes Bildfeld so weit, dass sie kaum noch sichtbar ist. Dennoch erscheint unserem Augen die weiße Fläche rot getönt. Wir sind im Labor der Künstler. Sie untersuchen Grenzsituationen. Sie müssen dabei nicht an KUNST denken. Dem Kunsthistoriker ist das Forschungsfeld vertraut, weil er zur Bestimmung dessen, was Kunst ist, ständig ihre Grenzen neu definiert, und weil der Versuch, Gestaltungsprinzipien auf ein Minimum zu reduzieren, Teil der Kunstgeschichte ist. Als Künstler wie Kandinsky um 1910 die Kunst vom Zwang zur Gegenständlichkeit befreiten und die 1. abstrakten Bilder malten, setzte Kasimir Malewitsch ein schwarzes Quadrat in ein weißes Bildfeld. Nichts weiter. Die Geste erscheint noch immer herausfordernd, die Stellung der schwarzen Form im weißen Feld revolutionär, gefährlich. Das konventionelle Tafelbild, das die Geste trägt, ist klein, größer ist die Wirkung dort, wo Gegenstände menschliche Maße, die Grenzen unserer Wahrnehmung übersteigen. Grenzen der Wahrnehmung: in einem allzu vielfachen Bild verlieren wir uns, ein allzu einfaches Bild löst allzu schnell Assoziationen aus. Vor einem zu großen Bild verschließen wir die Augen. Ein Bild, das sehr groß und sehr einfach ist, überwältigt uns.
Minimal Art ist ein kleines, kurzes Kapitel der Kunst- und der Ausstellungsgeschichte. Nur wenige Werke bieten sich Sammlungen an, Wohnungen und Museen sind zu klein. Zwischen 1968 und 1971 wurde Minimal Art durch Ausstellungen bekannt. Sie erhob einen utopischen Anspruch, der weiterwirkt und den Künstler periodisch neu formulieren werden. Minimal Art erscheint anonym, industriell gefertigt, verzichtet auf aHandfertigkeit. Sie unterläuft den Wunsch des Künstlers, in der industriellen Gesellschaft wirksam zu sein, ohne als Handwerker, Designer der Wohlstandsgesellschaft gelten zu müssen, durch Kunstlosigkeit, dimensionale Übertreibung, Sie irritiert und überwältigt.
Ronald Bladen The X 1965