K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.
Kunst ABC AVZ 7.8.1976
S I G M U N D F R E U D + D I E K U N S T 1 (1-3)
1925 schrieb André Breton das 1. Surrealistische Manifest, das zur Gründung einer Künstlergruppe und zur Bildung eines der einflussreichsten Schulstile des 20. Jahrhunderts führte. 5 Jahre zuvor hatte er, der junge Mediziner, in Wien den berühmten Nervenarzt, Traumdeuter und Seelenforscher Sigmund Freud besucht. Anregungen der Medizin und einzelner Ärzte auf Bildende Künstler und Literaten hatten sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt, Aber kein Arzt hat so einen beherrschenden Einfluss ausgeübt wie der Wiener Psychologe auf die surrealistische Kunsttheorie,
Freud selbst sammelte antike Kleinplastiken, Grabbeigaben mit Todessymbolen. Im Wartezimmer seiner Wiener Praxis hing ein Druck des berühmten Bildes „Nachtmahr“ des schweizer-englischen Malers Johann Heinrich Füssli (1781). Zu Kunstwerken hat er sich in 2 Essays geäußert; „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ 1910 und „Der Moses des Michelangelo“ 1914 und – vermittelt in der Abhandlung über den Roman „Gradiva“ von Wilhelm Jensen 1907. Für zeitgenössische Werke interessierte er sich nicht, die Pariser Surrealisten hielt er für Schwarmgeister, ein Besuch Salvador Dalis in seinem Londoner Exil 1939 hat ihn wenig beeindruckt.
Der Triebhintergrund, der Freud zum Aufbau seiner Gesellschaftstheorie diente, und seine Deutung der Träume boten den Surrealisten ein Zeichen der Hoffnung: „Da es sich nicht mehr darum handelt, der Wissenschaft den Prozess zu machen, da die Intelligenz nicht mehr in Betracht kommt, gewährt allein der Traum dem Menschen seine Rechte auf Freiheit.“ (Breton) Der Psychologe Freud war sehr vorsichtig bei der Definition einer allgemein verbindlichen Sprache des Traums. Er beharrte auf der Individualität des Patienten, dessen Traumínhalte jeweils in einer individuellen, zu entziffernden Bilderschrift erschienen. Dennoch versuchte er, wiederkehrende Motive als sexuelle Symbole zu ordnen. Diese Zuordnung ist, entgegen seiner Meinung, geschichtlich bedingt und reflektiert uns heute die erotische Kultur der Gründerjahre um 1900. Indem er sie verabsolutierte und ein Rezept anbot, diese Setzung bis in die Trivialia (die weiche Uhr, der Regenschirm) auszudehnen, erzeugte er ein Ordnungssystem unserer Bildersprache, das die Surrealisten in Paris, die Phantastischen Realisten in Wien und alle Neo-Surrealisten und Imaginisten mit Gewinn ausgebetet haben und das sich in den Massenmedien beherrschend auswirkt.
Freuds Forschungen waren komplexer als ihre Niederschläge in der Bildkunst. Es hat auch außer den unverbindlichen Besuchen Bretons und Dalis weder einen Dialog der Künstler mit ihm noch eine arbeitsintensive künstlerische Auseinandersetzung mit der Psychologie gegeben. So kann Otto F. Gmelin in seinem Buch „Anti-Freud“ 1975 ungetadelt behaupten, der von Freud untersuchte Triebhíntergrund sei heute Kultur geworden, und die Künstler hätten sich an einem „Kulturgeschäft mythologischer Friedhöfe des kulturellen Über-Ichs“ mit Gewinn beteiligt. (wird fortgesetzt)
Abb. Johann Heinrich Füssli (1741–1825), Der Nachtmahr, 1790/91 Frankfurt Goethe-Haus – Freies Deutsches Hochstift,