K U N S T A B C
1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.
Kunst ABC AVZ 11.5.1974
B I L D T R Ä G E R
„Hier ist ein Punkt dargestellt, der in Wirklichkeit das Ende einer Linie ist, die in einem Winkel von 90° zur Fläche liegt. Im gleichen Augenblick, in dem er an dieser Stelle wahrgenommen wird, bewegt er sich in Lichtgeschwindigkeit (300.000 km/sec.) von seinem Betrachter fort, umkreist die Erde und kehrt in diesen Raum zurück, bevor diese Worte gelesen worden sind, und kommt an einem Punkt auf der Wand hinter dem Betrachter zur Ruhe.“ – Douglas Huebler –
Vor mir liegen der Katalog „Kunst – über Kunst“ des Kölnischen Kunstvereins und das Buch „On Art – Über Kunst“ von Gerd de Vries. Sie führen jene Gruppe zeitgenössischer Künstler vor, die nicht einmal mehr „Konzepte“ als Kunstwerke vorstellen, sondern visuelle oder verbale Gedanken über Kunst. Sie geben Anlass, einige Gedanken zum Träger künstlerischer Mitteilungen vorzustellen.
Die frühesten Bildträger der Kunstgeschichte sind Höhlen- und Tempelwände und formbare Materialien wie Holz, Knochen und Steine. Im alten Ägypten kommen Papyrusblätter und –rollen dazu, später Pergament und Tierhäute. Selbstständige, transportable Tafelbilder als Holz und Leinwand gibt es erst seit dem 13./14. Jahrhundert. Der Bildträger gibnt dem Bild einen natürlichen Rahmen, doch treten bereits in frühesten Wandbildern künstliche Rahmungen, Sektionierungen hinzu, die dazu dienen, Abteilungen zu schaffen und Bildhierarchien aufzubauen. Der Rahmen des Tafelbildes, wie wir es kennen, ist in der Regel quadratisch oder rechteckig und betont die Wertigkeit des isolierten Ausschnitts. So sind die Rahmen des Barock und Rokoko als vergoldeten Holzschnitzereien oft so übermächtig, dass sie das eingeschlossene Bild zu überspielen drohen.
Das Bildrechteck setzt ein Wandrechteck voraus, auf dem es hängt, also Architektur, Wohn- und Lebenseinheiten, die von einer Geometrie des rechten Winkels beherrscht sind. Das aber ist nicht selbstverständlich, sondern setzt wiederum eine Anschauung von Welt voraus, die auf einem berechenbaren, rationalen Ordnungsgefüge beruht. Die Form des Bildträgers ist also Ergebnis einer Weltanschauung, und diese Weltanschauung scheint auch seine Materialität über Jahrhunderte stabilisiert zu haben: Papier, Leinen, Holz, Stein, Metall – Mineralien, Öl, Wasser. Wie stellen wir uns, wenn ein Künstler auftritt und die Gesetzmäßigkeiten des Bildträgers stört? Wir halten ihn für verrückt. Sind es mehrere, so müssen wir annehmen, die Anschauung von Welt habe sich geändert, sei verrückt worden. In Museen zeitgenössischer Kunst sehen wir heute Tafelbilder, die nicht mehr flache Rechtecke, sondern dreidimensionale, „schiefe“, verzerrte oder in Stücke zerteilte Formen bieten. Und wir sehen auch, dass ein großer Teil zeitgenössischer Kunst gar nicht mehr in Tafelbildern oder Skulpturen stattfindet. Ihr Bildträger ist heute einer von vielen. In Hueblers Empfehlung ist der Bildträger beliebig: man kann den schwarzen Punkt ebenso in ein rechteckiges Feld auf Papier drucken oder auf einer Zimmerwand markieren. Er hat keine Bedeutung ohne den Text Hueblers. Dieser Text kann sich aber jeden Punktes bedienen. Er ist demonstrativ, transportiert einen Gedanken: über Kunst? Der Punkt an der Wand ist noch materiell, doch der Text nimmt ihm seine Autonomie, immaterialisiert ihn. Diese Art, über Kunst nachzudenken, hat viele Feinde. Denn niemand gibt gern liebgewordene Erinnerungen auf, verzichtet gern auf den „Genuss“, die „Festlichkeit“, die „Alltagsferne“, die er als „Kunst“, als „ästhetisch“ begreift. Aber der Punkt des Douglas Huebler ist nur eine Parabel, Dasselbe passiert mit jedem wichtigen Punkt in jedem wichtigen Kunstwerk der Vergangenheit. Versuchen Sie, sich zu erinnern, was Sie erlebten, als Sie zum ersten Mal jenen Punkt zwischen der Hand Gottes und der Adams in der Sixtinischen Kapelle des Michelangelo wahrnahmen.