Beckeraachen

Kunstwechsel

Der Zufall in der Kunst

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K U N S T   A B C

1973 -77 habe ich unter diesem Titel 173 Texte in der Aachener Volkszeitung publiziert. Den einen oder anderen werde ich hier wiedergeben. Ich versuche, die alten Maschinen-Manuskripte zu konvertieren.

Kunst ABC AVZ 18.5.1974

Z U F A L L

Natürlich sind in jedem Kunstwerk, das von menschlicher Hand hergestellt ist, Zufälle enthalten: ein zufälliger Farbspritzer auf der Leinwand wird in eine zarte Wolke verwandelt, ein Ausrutscher des Bleistifts auf dem Papier erscheint am Ende absichtsvoll vereinnahmt, Risse in Marmor oder Bronze bereichern Skulpturen. Dennoch: der Zufall hatte in der Kunst bis ins 20. Jahrhundert hinein nichts zu suchen. Erst Futurismus, DADA und Surrealismus haben ihn in den Rang einer künstlerischen Methode erhoben. Das Publikum hat nicht aufgehört, den Zufall zu tadeln. Nicht nur den Aufführungskünsten („happenings“) wird er vorgeworfen, nicht nur der zeitgenössischen Musik, sondern auch der Malerei, voran jenen Aktionsmalern von Mathieu bis Pollock, die Farben auf Leinwände werfen, spritzen, gießen oder tropfen lassen.

Das Betropfen der Leinwand, das Jackson Pollock berühmt machte, wäre nichts weiter als ein formales Spiel, eine „Klecksografie“ (ein Wort aus dem 18. Jahrhundert, das Kritiker gegen vorimpressionistische Maler im 19. verwendeten), ginge dieses Zufallsspiel nicht von einer historisch gewachsenen Betrachtung der Welt und ihrer Ordnung aus. In einer geschlossenen Weltanschauung hat der Zufall nichts zu suchen, Bis in die Biografie des Einzelnen hinein sind alle Schritte gefügt in ein unabänderliches Gesetz, das die Welt ordnet. Zerbricht ein solches Weltbild, so entstehen Löcher, Spalten, die wir nur überbrücken können, wenn wir sie als Zufälle betrachten. Die Vorstellung, dass solche Zufälle poetisch sein können, ist populär geworden. Sie können einen merkwürdigen Reiz haben: sie stoßen unsere Gedanken in das uferlose Meer der Fantasie. André Breton, der „Papst“ der Surrealisten, erzählt in seinem Buch „Nadja“, in einer Theatervorstellung, der er mit Picasso bewohnte, sei ein junger Mann in seine Loge gekommen, habe ihn angeschaut, sich entschuldigt: er habe ihn für einen Freund gehalten, der im Krieg vermisst wird. Breton hat später den Dichter Apollinaire als jenen jungen Mann wiedererkannt.  Jeder kennt solche Geschichten. Breton war sie wichtig, weil er glaubte, man könnte die Zufälligkeit aus der persönlichen Bindung lösen, den „objektiven Zufall“ erzeugen und künstlerisch verwerten. Ergebnisse des Zufalls sind in der surrealistischen Ästhetik „schön“: „Er ist so schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch“ schrieb Lautréamont. Die Surrealisten nahmen diesem Zufall die Zufälligkeit; sie versuchten, Zufälle zu erzeugen – oder auch: ihnen vorzubeugen: Soupault ging an sonnigen Tagen mit geöffnetem Regenschirm spazieren, bot der ersten Dame, der er begegnete, seine Begleitung an: Es könnte ja sein, dass ….

Wer den Zufall so hoch wertet, bezweifelt, dass es im Leben Zusammenhänge, das Gesetz von Ursache und Wirkung gibt. Er sieht mehr Unsinn als Sinn um sich her. Die Dadaisten und Surrealisten der ersten Stunde sind gebrannte Kinder des 1. Weltkriegs. Sie sehnten sich nach einer Ordnung, doch sie sollte weder von einer Ideologie noch von einem rationalen, technologischen, mechanistischen System erzeugt sein. Ihre Utopie hieß „automatisches Leben“, gelenkt von dem freien Spiel des Zufalls – und des Unterbewusstseins. Über den Anteil von Sigmund Freud an dieser Vision ist noch zu sprechen. Aber Freud ist nur ein Baustein am Surrealismus. In der dialektischen Spannung zwischen Notwendigkeit und Freiheit (dem Zwang der Libido und der Freiheit des Zufalls) entwickelte diese Bewegung ihr Vokabular, das die Kunst bis in unsere Tage befruchtet.

Abb. Robert Filliou 1984 one eins un 550 Würfel ausgeworfen Museum Genf

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