W A S I S T K U N S T ?
Mir, dem Kunst sein bester Freund ist, sind Gespräche über KUNST ärgerlich: Was ist KUNST? Was ist gute KUNST? Alle Antworten sind schüchtern, bieder, bemüht und verraten eine Art von Bildungsangst, als hätte man in der 3. Klasse etwas verpasst. In einer Sammlung von Kindermeinungen sagt eines: KUNST ist Berge besteigen. Es hat Recht. Ein Bergsteiger, ein Bauchredner, ein Seiltänzer, ein Violinvirtuose, ein Jongleur, ein Feuerschlucker, ein Gewichtheber, ein Clown – alle sind „Artisten“– im Englischen artists = Schausteller, und in Französisch herkömmlich nur sie, und ein Maler ist ein Peintre, ein Bildhauer ein Sculpteur. Die Verwendung des Wortes Künstler für alle, die zeichnen, malen, modellieren, brennen, radieren, stricken, nähen, Installationen entwerfen und Algorithmen erfinden, ist ebenso nutzlos wie alle Senegalesen, Sambier, Kenianer, Eritreer, Marokkaner und Nigerianer Afrikaner zu nennen. Solche Begriffe sind gut für die Verwaltungen der Künstlersozialkasse und der Jobcenter, aber sie adeln nicht und bieten auch keine Gewähr für besondere Qualitäten. Das Mädchen, das den Bergsteiger nennt, meint eine besondere, außergewöhnliche Leistung, es wird den chinesischen Jongleur, der nicht 3, nicht 5, nicht 8, sondern 13 Teller auf seinen Stöcken drehen kann, einen großen Künstler nennen.
Die Geschichte der Bilderkunst ist die der Befreiung aus der ars mechanica, die dem Broterwerb dient, in die artes liberales, und tatsächlich hat sie es geschafft, in vielen Ländern in die Hochschulstudiengänge der „Liberal Arts“ Eingang zu finden. Wir sind folgerichtig von unendlich vielen „Künstlern“ umgeben, „freien“ Menschen, die mit ihrer Kunst nicht notwendig dem Broterwerb nachgehen. Wie alle Artisten hoffen sie, für jede ihrer Leistungen belohnt zu werden. Die größte verlangt den höchsten Lohn, die kleinste dient den Freunden. Die Betroffenheit, Überraschung, Bewunderung, Zustimmung, der Applaus zählen – für die Besteigung des höchsten Berges, die Violinsonate von Scarlatti in Vollendung, die Rock´n Roll-Nummer, die in alle Glieder fährt, das homerische Gelächter, das der Clown erzeugt, den vierfachen Salto am Hochseil – oder das Pissoir, das, von einem Künstler signiert, umgedreht im Schaufenster einer New Yorker Galerie als Fontäne steht, oder der Künstler selbst, der einem toten Hasen die Kunst erklärt, oder „Guernica“, das Gemälde einer Katastrophe, die die Welt erschütterte.
Die Sensation, die Erregung der Sinne erreicht in der Distanz viele Menschen, in der Nähe kann sie einzelne erfassen; so auch ihr Anlass: der hohe Berg, der Clown in der Zirkusarena, der Virtuose auf der Bühne des Konzertsaals stehen einer Menge gegenüber, aber ebenso stark können die Farbenpracht eines Aquarells, der wandernde Strich eines weichen Stiftes auf einem Papier, ein Seiltänzer, der über Flammen balanciert, gemalt zwischen 2 Felsen (für BRD und DDR) einen Menschen erregen, der sie allein anschaut. Der Menge und ihm ist gemeinsam, dass sie empfinden, wie ihre alltäglichen Rituale, die eiserne Ordnung ihres Lebens, seine erlaubte Langeweile zerstört werden; sie erschrecken und lassen sich entführen in eine Sphäre des freien unerlaubten Schweifens.
Das Schweifen wirkt nach. Schwindet die Erregung schnell, wird es vergessen. Stößt es auf Widerstände, so erhält es sich, fordert Nachdenken, Unterhaltungen, öffnet Bücher, erweitert Horizonte. Der Kölner Sammler Rainer Speck, schockiert, mochte das Erdtelefon von Joseph Beuys erst erwerben, als es in New York ausgestellt wurde. Mit einem guten Kunstwerk kann ich mich lange über seine Entstehungsgeschichte, die Herkunft seiner Materialien, ihre Zusammensetzung und Komposition unterhalten, ehe es mir erzählt, was es darstellt. Es hat die Zwänge meines Lebens, seine erlaubte Gleichförmigkeit, die eisernen Regeln meiner Gewohnheiten ein Stück weit befreit und meinen Blick auf die Welt verändert.
Viele empfangen solche Sensationen gedämpft durch Lautsprecher und Bildschirme, die die wechselnde Distanz aufheben, wenngleich Kopfhörer und 3D-Effekte Illusionen einer realen Begegnung zu erzeugen versuchen. Radio, TV, Ton- und Bildkonserven erreichen andererseits, dass die Ereignisse, die Sensationen auslösen, vielen Menschen gemeinsam zugänglich werden. Die Medien regen sie an, die frontale Begegnung zu suchen. Sie übernehmen eine Bildungsaufgabe und laden zu Zirkusabenteuern, Reisen zu fernen Bauwerken und bedeutenden Orten der Bildkunst ein. Ihrer Einladung folgend drängen sich Besucherströme in großen Museen und Ausstellungen. Aber jene Bildkunst, die die von Problemen durchrüttelte Gegenwart reflektiert, ist den Medien vorzüglich nur dort von Interesse, wo ihr Geldwert Erstaunen erregt, weil er den von Fußballstars übersteigt.
Die Medien, die selbst unzählige Bilder produzieren und verbreiten, haben dazu beigetragen, KUNST als etwas Besonderes, Besseres, Kostbares, Schützenswertes erscheinen zu lassen. Das Grundgesetz garantiert die Freiheit der Kunst aber nicht mehr als die der freien Meinungsäußerung. Es macht darum wenig Sinn, die Kunst der „Visual Artists“ wie einen Hofhund an die Kette der Tradition zu legen, um sie vor anderen Medien zu adeln. Die Nostalgiker, die den Niedergang der Kunst beklagen, müssen sich daran gewöhnen, dass die Artes Liberales alle Gebärden kreativen Verhaltens zulassen, die nicht durch den Broterwerb erzwungen sind, sondern der Entfaltung einer Persönlichkeit dienen, die die Gesellschaft formt, in der sie lebt. Der Forderung, der Gemeinschaft nützlich zu sein, muss sich folgerichtig jeder Künstler stellen.
Die Gemeinschaft antwortet mit Protest oder Einverständnis, der Konsens zählt, der Applaus der Familie, der community, der Ausstellungsbesucher, der Kritiker, der Tageszeitung, des TV. Wenn alle geklatscht haben, ist die Kunst gut. Es kann lange, bis über das Leben hinaus, dauern. Wenn aber Menschen bezahlt werden, zu klatschen, wenn Verkaufsagenten Absprachen treffen, wenn der Bergsteiger für ein Foto auf den Gipfel getragen wird, wenn der Maler nur das malt, was der Sammler gern über sein Sofa hängt, wenn das Pissoir umgedreht oder „Guernica“ gefälscht wird, bleibt der Kunst der Ruhm, sogar Missbräuchen zu dienen.
A.R.Penck „Der Übergang“ 1963